Wir alle leiden inzwischen unter den intensiven und vielfältigen Spaltungen der Gesellschaft: Zwischen Rechts- und Linksaußen, zwischen Klimaschützern und Klimaleugnern, zwischen alten weißen Männern und modernen Gendervertretern, zwischen Effizienzmanagern und sich selbst verwirklichenden Familienmenschen, zwischen Akzeptanten der Flüchtlingszuwanderung und den Besorgten, die den Untergang der eigenen Kultur befürchten.
Der Streit zwischen diesen Lebenshaltungen eskaliert sogar innerhalb des Freundes- und Familienkreises und ist eine Fehlentwicklung, die gestoppt werden muss. Eine nüchterne Analyse kommt doch sehr schnell zu dem Schluss, dass in fast jeder dieser Haltungen zumindest ein Körnchen Wahrheit steckt und wenn das so ist, sollten alle bereit sein, die anders Denkenden nicht zu verteufeln, sondern in aller Ruhe darüber zu reden, wie es weiter gehen kann. Konkret: wir müssen aufhören, „die Anderen“ missionieren zu wollen, weil es unsere Pflicht wäre, die Abweichler auf den „richtigen Weg“ zu führen, eventuell sogar mit Zwang. Wir müssen aufhören, davon zu schwadronieren, dass die Welt untergeht, wenn sich „die Anderen“ durchsetzen.
Statt zu missionieren, muss in einer demokratisch fairen Weise über alles offen diskutiert werden und dann sollten konsensfähige Entscheidungen getroffen werden. Diese werden in der Regel Kompromisse sein, die auch immer wieder mal neu justiert und angepasst werden müssen.
Ein endgültiges Richtig oder Falsch hat sich immer erst durch den Lauf der Geschichte in der Praxis erwiesen und das wird auch im Jahr 2023 so bleiben. Manche Sprachfragen sollten allerdings dem sich selbst entwickelnden Sprachgebrauch ohne staatliche Eingriffe überlassen werden.
Insgesamt sind in unseren Diskussionen mehr Gelassenheit und Nüchternheit gefragt, eine Haltung, sich anbahnende neue Entwicklungen weder als endgültige Heilsbringer noch als drohende Untergangsymbole zu definieren. Eine grundlegende Hoffnung, dass sich auf Dauer das zukunftsweisende und das für die Menschen Richtige durchsetzen wird, ist dabei sicher kein falscher Ratgeber.
Also: mehr zuhören und weniger missionieren.
Von Kollegiumsmitglied Dr. Ingo Friedrich, Vizepräsident des Europ. Parlaments a.D.