„Zimmergenossen“, ein Begriff, der Assoziationen weckt – selten aber denkt man dabei an zwei alte vom Leben gezeichnete Männer. Dabei gibt es auch in Pflegeheimen, zumal in der Frankfurter Budge-Stiftung, noch Begegnungen, die Mut machen, weit über den privaten Bereich hinaus.

Mark Horovitz und Heinz Brockmeyer, mein Vater, waren völlig unterschiedliche Menschen. Im Buch des Lebens war diese Begegnung am Lebensabend sicherlich nicht vorgezeichnet. Der Eine der Enkel des letzten Rabbiners der Frankfurter Börneplatz-Synagoge, dem durch Vorausschau seiner Eltern das Schicksal vieler seiner Generation erspart blieb; der Andere in Kindheit und Pubertät von den Nazis indoktriniert, der nie über das Vergangene reflektierte, zumindest für mich nie wahrnehmbar. Als Kind und erst recht später hörte ich wenig von meinem Vater über Erlebnisse im 3. Reich. Vorurteile saßen tief, besonders gegenüber Polen. Er traf einige Polen in seinem Leben, „tolle Kerle“, wie er dann urteilte, keinen Widerspruch erkennend. So war er eben.

Jetzt wohnten diese beiden Gegenpole gemeinsam in einem Zimmer, der eine, von seiner Familie in den USA getrennt und verlassen, durch einen Schlaganfall auf permanente Hilfe angewiesen, der andere, der nie sein Haus in Darmstadt verlassen wollte, bis ihn die einsetzende Demenz, seine zunehmende Pflegebedürftigkeit und sein Sohn dazu zwangen. Er grollte lange mit mir, aber die Umstände ließen keine andere Wahl. Ein nicht hinreichend behandelter Abszess, die damit verbundene Not-OP und die Nachbehandlung inklusive drei Vollnarkosen in nur einer Woche, da hätte auch jemand viel Jüngeres als der 91-jährige schwer zu kämpfen gehabt. Aber das ist eine eigene Geschichte. Alleine nach Hause konnte er jedenfalls nicht mehr und wir, meine Frau und ich, wollten ihn in der Nähe haben, damit wir ihn möglichst oft besuchen konnten. Dass wir dabei auf die Frankfurter Budge-Stiftung stießen, war eine glückliche Fügung.

Die Henry und Emma Budge Stiftung ist etwas ganz Besonderes: In den 1920ern von den Stiftern gegründet, um den Austausch zwischen Christen und Juden zu fördern, wurde sie von den Nazis „arisiert“ und erst in den 1950er Jahren wiederbelebt, mit dem ursprünglichen Zweck, der natürlich jetzt eine viel größere Bedeutung hat. Seitdem können in Frankfurt Juden und Christen in der letzten Phase ihres Lebens wieder Seite an Seite leben. Auch das ist eine eigene, gleichermaßen tragische und Hoffnung gebende Geschichte.  

Der Zufall brachte meinen Vater und Mark in ein gemeinsames Zimmer. Wir wussten damals noch nicht, ob er vielleicht nach einer Phase der Rekonvaleszenz doch wieder nach Hause könnte. Als klar war, dass das nicht der Fall war, beantragten wir für meinen Vater ein Einzelzimmer. Sehr schnell merkten wir jedoch, wie gut ihm die enge Gemeinschaft mit Mark Horovitz tat und zogen den Antrag auf ein Einzelzimmer zurück. Mein Vater brauchte einfach permanent Ansprache und auch Mark lebte merklich auf.

Marks Lebensgeschichte hat es in sich: Mark und seine Schwester wurden als Kinder noch rechtzeitig aus Deutschland heraus nach London gebracht, und auch den Eltern gelang noch die Ausreise. Die Familie lebte in Kanada, Mark machte später eine wissenschaftliche Karriere an der Universität of California in Berkeley, heiratete und adoptierte zwei Kinder. Auch wenn ich das nirgends dokumentiert gesehen habe, soll er einer der Väter des Burning Man Festivals sein. Mit 80 kam er nach Deutschland „zurück“. Er hatte eine Frau aus Deutschland kennengelernt und trat als Zeitzeuge in Schulen auf. Doch dann kam der Schlaganfall. Mit den Kindern in Kalifornien war er zerstritten und sie ignorierten ihn. Die Budge Stiftung wurde seine letzte Zuflucht… Soweit die mir zugetragene Geschichte.

Verbittert war er angesichts dieser Tragik nicht. Er war zwar an den Rollstuhl gefesselt, den er selbständig nicht bedienen konnte, er musste angezogen und gefüttert werden und war in der Kommunikation deutlich eingeschränkt. Aber er schien zufrieden und nahm gerne jede Zuwendung an. Das führte zu „Schreckmomenten“, wenn etwa mein Vater ihn durch die Station fuhr, den Rollstuhl für sich als Rollator nutzend, um dann ungestützt an seinen Platz zurückzuwanken. Ich erinnere mich auch, wie wir mit meinem Vater im Café der Stiftung waren und er ein Stück Kuchen mit auf die Station nahm. Nicht für sich, sondern für seinen Zimmergenossen, der gerade von den Pflegern neu angezogen worden war. Vater hatte die Gabel vergessen und bis er diese geholt hatte, hatte Mark längst mit den Händen zugegriffen und sich die süße Masse in den Mund geschoben. Natürlich mussten ihn die Pfleger danach völlig neu einkleiden.

Für meinen Vater gab es auf seine alten Tage noch einmal richtig neue Impulse. Gerne begleitete er, der niemals in seinem Leben etwas anderes als eine katholische Kirche von innen gesehen hatte, Mark zu den Schabbatfeiern in der stiftungseigenen Synagoge, nicht zuletzt, weil das katholische Angebot zwar vorhanden, aber doch etwas weniger präsent und regelmäßig war. Auch das anschließende Essen im Kreis der kleinen Gemeinde bereitete ihm viel Freude, auch wenn er und Mark sehr schnell ermüdeten und in der Regel nicht bis zum Ende blieben. Mein Vater baute auch eine enge Bindung zum Rabbiner der Stiftung, Andy Steiman, auf, der ohne Zweifel ein Seelsorger im besten Sinne ist und ganz den interreligiösen Dialog lebt. Es sei gut, dass ein solches Miteinander der Religionen heute möglich sei, sagte mein Vater einmal. Dass diese Nachkriegsrealität sich inzwischen wieder dreht und Vorbehalte wieder zunehmen, davon bekam er nichts mehr mit.

Mark starb einige Monate vor meinem Vater. Auch mit dem neuen Zimmerkollegen verstand mein Vater sich gut, aber es entwickelte sich nie die Nähe wie mit Mark. Obwohl immer stärker durch seine Demenz beeinträchtigt, beschäftigte mein Vater sich mit seiner Vergangenheit. „Mein Großvater brachte mich an einem Morgen zur Schule. Da sah ich, wie sie sie auf die LKWs gebracht haben“, sagte er mir unvermittelt, als wir einmal gemeinsam im Restaurant der Stiftung zu Mittag aßen. Mehr sagte er nicht, aber es war das erste Mal, dass er dieses Thema mir gegenüber überhaupt ansprach.

Am 1. Juli 2023 wird übrigens der „Stolperstein“ für Familie Horovitz in Frankfurt enthüllt.

Zum Foto: Zwischen Mark Horovitz und Heinz Brockmeyer entwickelte sich im Seniorenheim der Budge Stiftung in Frankfurt eine späte Freundschaft (Foto: Dieter Brockmeyer).  

Der Autor dieses gleichermaßen beeindruckenden wie bewegenden Beitrags ist Dieter Brockmeyer, langjähriges Mitglied des EUROjournal-Kollegiums, den wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, bei dieser Gelegenheit als neues Mitglied unserer ehrenamtlichen Chefredaktion vorstellen möchten.

Dieter Brockmeyer (geboren 1961 in Darmstadt) ist ein international anerkannter Medien- und Innovationsexperte, Publizist, Keynote-Speaker und Moderator. Er ist Chief Project Officer, CPO, von Diplomatic World, einem Medienprojekt, das seit der Jahrtausendwende am Markt ist und mit seinem vierteljährlichen Magazin sich als Meinungsmedium in der Diplomatie im Raum Brüssel und weit darüber hinaus einen Namen gemacht hat. Er ist Mitgründer und der Innovationsexperte des Diplomatic World Institutes, DWI, in Brüssel, sowie Partner der internationalen Audio-Podcast-Reihe „2hochMEHR“ zum Thema Innovationsdenken. Er kuratiert internationale Branchenkongresse und entwickelte die Wholistic World Innovation Trophy, die das DWI 2021 erstmals virtuell vergeben hat, und die im November 2022 im Casa Llotja del Mar in Barcelona ihre physische Premiere feierte. Die internationale Auszeichnung basiert auf dem Konzept der „Wholistischen Innovation“, das er für das Institut entwickelt hat und in seinen auf Amazon erhältlichen Büchern „Pandemia’s Box“ auf Englisch und Deutsch erläutert wird.

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