Alice „Liesl“ Heiß (geboren 1899 in Regensburg, ermordet 1944 in Auschwitz)
Der Regensburger Stefan Reichmann, Berufsoberschullehrer für Kunsterziehung, gilt als ausgewiesener Kenner der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Erst im Vorjahr hat der 58jährige gelernte Kirchenmaler mit der Kuration einer viel beachteten Ausstellung zum überregional bekannten Kunstmaler Max Wissner (1873-1959) in den Räumlichkeiten des Kunst- und Gewerbevereins der Domstadt mitsamt der Produktion eines zeitgeschichtlich interessanten Begleitbuchs sein Meisterstück abgeliefert. Ganz aktuell hat Reichmann nun im Morsbach Verlag (ISBN 978-3-96018-124-8) ein weiteres nicht nur regionalgeschichtlich hochwillkommenes Werk nachgelegt. In „Die kleine Welt von gestern – Regensburger Geschichten von 1900 bis 1966“ erzählt der Autor in einer kurzweilig zu lesenden Chronik von Jahr zu Jahr interessante Aspekte der Lokalhistorie im zeitgeschichtlichen Kontext, immer wieder aber auch mit ganz persönlichen Schicksalen versetzt. Die Inhalte hat Stefan Reichmann neben dem Studium öffentlich zugänglicher Quellen auch aus vielen persönlichen Ermittlungen und Zeitzeugen-Gesprächen zusammengetragen.
Anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 sei an dieser Stelle exemplarisch das Leben und Schicksal eines Regensburger Opfers der nationalsozialistischen Todesmaschinerie aus dieser Neuerscheinung exzerpiert, das pars pro toto für ganz viele verlorene Leben aus den Reihen des deutschen Judentums stehen mag. Die Rede ist von Alice „Liesl“ Heiß (1899-1944), geborene Heidecker. Autor Reichmann lässt die Geschichte im Jahre 1927 mit einem eigentlich erfreulichen Ereignis beginnen, als die Tochter des arrivierten Justizrates Dr. Heidecker den 30jährigen Berufskollegen des Vaters, Alfons Heiß (1897-1979), ehelichte. Sehr zum Missfallen des Vaters, dem der Bräutigam zu katholisch und zu wenig etabliert erschien. In den nächsten Jahren avancierte der Ehegatte zu einem angesehenen Anwalt, war daneben vielseitig interessiert, wofür beispielsweise die Mitgliedschaften in der Fußball-Abteilung des Sportbundes Jahn, aber auch im Regensburger Gesellschaftsverein Schlaraffia Ratisbona stehen mögen. Die kleine Familie – im Jahre 1929 wird die Tochter Helene geboren – wächst und man erarbeitet sich in schwierigen Zeiten einen bescheidenen Wohlstand.
Bis zum Jahre 1934, als Alfons Heiß im neuen „Dritten Reich“ der Wind eisig ins Gesicht zu blasen beginnt. Zunächst merkt der Jurist, dass er bei Gerichtsverfahren nicht mehr als Pflichtverteidiger Verwendung findet, bald wird der Grund offenbar: die jüdische Herkunft seiner Frau Liesl. Wie so viele jüdisch-säkulare Landsleute hoffte auch Frau Heiß durch eine Taufe – in der Bischöflichen Hauskapelle – das „Problem“ zu lösen. Dennoch wird Alfons Heiß 1936 im Register der deutschen Rechtsanwälte nicht mehr berücksichtigt und die Allianzversicherung kündigt auf Druck der Machthaber den Berufshaftpflichtvertrag.
Die ehrverletzenden Maßnahmen der Nationalsozialisten, die zwischenzeitlich auch in der einstigen Hochburg von liberalem Bürgertum auf der einen und klerikalem Konservatismus auf der anderen Seite das alleinige Sagen hatten, gingen in den Folgejahren weiter. 1938 wird das Ehepaar Heiß von städtischen Stellen aufgefordert, das Formular zur „Anmeldung des Vermögens von Juden“ auszufüllen. Im selben Jahr brennt auch in Regensburg die erst 1912 errichtete Synagoge. Als Tochter eines hochangesehenen und (siehe oben) wie seine protestantischen und katholischen Zeitgenossen standesbewussten Mitglieds der Jüdischen Gemeinde hatte das junge Mädchen Liesl damals dem Oberbürgermeister Otto Geßler (1875-1955) die Schlüssel des Baus überreicht. Geßler war dann in der Weimarer Republik acht Jahre lang Reichswehrminister für die Deutsche Demokratische Partei, konnte aber 26 Jahre später weder den Abriss der unter ihm errichteten Synagoge verhindern, noch das Schicksal seiner ehemaligen Mitbürger lindern. Nach 1933 kaltgestellt und am Ende des Krieges selbst in einem Konzentrationslager interniert, wurde der nach dem Krieg zum Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes gewählte Demokrat erst in seinen letzten Lebensjahren rehabilitiert. Dies ist allerdings ein Exkurs des Autors dieser Zeilen und muss an anderer Stelle einmal vertieft werden.
Zurück zu Familie Heiß: fortgesetzte Schikanen, nicht nur durch öffentliche Stellen, sondern gerade auch durch Mitbürgerinnen und Mitbürger ließen im Sommer 1939 den Entschluss reifen, Deutschland in Richtung Schweiz zu verlassen. Im September kehrt die Familie dann aber nach Regensburg wegen Liesl Heiß`Heimweh zurück, wo die Unterdrückung noch unerbittlicher fortgesetzt wird. Gerade noch musste Alfons Heiß für die anlässlich des Kriegsbeginns erhobene „Sühneleistung für die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk“ 11 000 Reichsmark zahlen, da erhält der „Volksgenosse“ kurze Zeit später die „Einladung“ zum Wehrappell zu erscheinen. Anfang des Jahres 1943 wird Alfons Heiß dann als Flakwehrmann eingezogen – als einziger Rechtsanwalt der Stadt. Wenige Monate später war es auch damit vorbei. Der stets zu seiner Frau haltende Alfons Heiß wurde mit einem perfiden Trick des Hörens von „Feindsendern“ beschuldigt und vom Justizministerium mit Berufsverbot belegt.
Doch damit nicht genug. Für den ehemaligen Anwalt bedeutet der Vorwurf des Feindsenderhörens Untersuchungshaft und ab Januar 1944 Zuchthaus für 18 Monate. Viel schlimmer ist für den Familienvater aber, dass durch seine Inhaftierung seine bislang in „priviligierter Mischehe“ zumindest von den schärfsten Maßnahmen verschonte Ehefrau Liesl nun schutzlos den Nazischergen ausgesetzt ist. Auch Liesl Heiß wird sogleich mit ihrem Mann in das Regensburger Gefängnis überstellt und bereits am 25. November 1943 nach Auschwitz deportiert. Am 11. Februar 1944 erhält der im Zuchthaus Amberg seine Strafe absitzende Ehemann die Sterbeurkunde seiner Frau – natürlich, denn Ordnung muss sein im Deutschen Reich, gegen Zustellgebühr.
Sterbeurkunde der Alice Heiß aus dem Konzentrationslager Auschwitz (aus: Stefan Reichmann: Die kleine Welt von gestern, Morsbach, S. 177)
Während der Haft des Alfons Heiß bis Ende März 1945 war die Tochter Helene ganz auf sich gestellt, zumal das Privathaus der Familie rasch Besuch von der Gestapo erhielt und man sich am Interieur schadlos hielt – ganz selbstverständlich wieder auf juristischer Grundlage oder wie man das „Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens“ auch immer nennen möchte. Im Laufe des Jahres 1945 kehren Alfons Heiß und seine Tochter wieder nach Regensburg zurück. Unbescholtene Bürger mit Verwaltungserfahrung waren wie in so vielen Städten Deutschlands nach dem Kriege rar gesät und so wird Heiß am 20. Juli 1946, zwei Jahre nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler, zum ersten demokratisch gewählten Stadtoberhaupt nach dem Weltkrieg vereidigt, in Personalunion mit dem Amt des Polizeipräsidenten. Zwei seiner damals 129 000 Bürgerinnen und Bürger waren übrigens die nach der Flucht aus dem Sudetenland in Regensburg gestrandeten Oskar und Emilie Schindler.
Schon zwei Jahre später musste Alfons Heiß das Amt des Oberbürgermeisters in der Abstimmung des Stadtrats an Georg Zitzler (1903-1986) abgeben, mit dem er nicht nur die CSU-Partei-, sondern auch Jahn-Mitgliedschaft gemeinsam hatte, blieb zunächst aber im Amt des Polizeipräsidenten. Er diente seiner Stadt in der Verwaltung bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1962 in hoher Stellung weiter, musste aber durchaus auch erleben, wie ehemalige Funktionäre des NS-Staats bald nach Gründung der Bundesrepublik an ihm vorbeibefördert wurden. Als Ehrenmitglied blieb Alfons Heiß bis zu seinem Tod 1979 auch dem SSV Jahn Regensburg treu verbunden, dem er 1916 – in schweren, aber nicht den schwersten Jahren seines Lebens – beigetreten war.
Vom Leiter der Chefredaktion Prof. Dr. Wolfgang Otto