Mit dem „Digital Omnibus“-Paket zündet die Europäische Kommission die wohl umfassendste Reform des digitalen Regelwerks seit Einführung der Datenschutzgrundverordnung. Was Brüssel am 19. November 2025 präsentierte, ist nicht weniger als der Versuch, Europas digitale Ordnung grundlegend neu zu justieren – zwischen technologischem Fortschritt, politischer Verantwortung und dem Anspruch, global konkurrenzfähig zu bleiben.
Das Vorhaben besteht aus zwei eng verzahnten Säulen: einer allgemeinen „Digital Omnibus“-Verordnung zur Modernisierung bestehender Gesetze wie der DSGVO und der ePrivacy-Richtlinie sowie einem speziellen „Digital Omnibus on AI“, der den erst kürzlich verabschiedeten AI Act an die Praxis anpassen soll. Zusammen bilden sie ein politisches Signal: Europa will KI ermöglichen, nicht verhindern.
Ein neues Kapitel für die DSGVO: Mehr Mut zur KI
Sieben Jahre nach ihrem Start bekommt die DSGVO die größte Revision ihrer Geschichte. Der Kern: Künstliche Intelligenz soll nicht länger ein regulatorischer Unsicherheitsfaktor sein, sondern auf belastbarer Basis entwickelt und eingesetzt werden können.
KI-Training auf Basis „berechtigter Interessen“
Der wohl folgenreichste Schritt ist die geplante Öffnung der Rechtsgrundlage. Künftig kann das Training und der Betrieb von KI-Systemen als „berechtigtes Interesse“ gelten – sofern Betroffene transparent informiert werden und ein echtes Widerspruchsrecht behalten. Damit rückt die EU von ihrem bisher extrem restriktiven Kurs ab und schafft einen praktikableren Rahmen für die Datenverarbeitung im KI-Kontext.
Sensible Daten werden neu gedacht
Parallel dazu zieht Brüssel die Grenzen sensibler Daten enger. Nicht mehr nur unmittelbar erkennbare Merkmale sind geschützt, sondern auch solche, die erst durch Algorithmen aus harmlosen Informationen errechnet werden – etwa Rückschlüsse auf Gesundheit, politische Haltung oder Ethnie.
Gleichzeitig soll die Verarbeitung dieser heiklen Daten für die Erkennung und Korrektur von Bias breiter erlaubt werden. Die EU versucht damit einen Balanceakt: Schutz vor Diskriminierung, ohne Innovation abzuwürgen.
Automatisierte Entscheidungen mit menschlicher Logik
Ein weiterer großer Baustein betrifft automatisierte Entscheidungen. Diese sollen künftig zulässig sein, wenn ein Mensch theoretisch zu demselben Ergebnis kommen könnte. Unternehmen erhalten damit deutlich mehr Rechtssicherheit.
Entlastung gibt es auch bei der Bürokratie: Organisationen mit geringerem Risikoprofil sollen vereinfachte Verfahren nutzen können, und die Meldefrist für Vorfälle wird von drei auf vier Tage verlängert.
Der AI Act unter dem Skalpell: Weniger starre Regeln, mehr Realitätssinn
Kaum ein EU-Gesetz wurde so heftig diskutiert wie die KI-Verordnung. Mit dem Digital Omnibus wird sie nun an entscheidenden Stellen nachgeschärft – und alltagstauglicher gemacht.
Flexiblere Zeitpläne statt unrealistischer Deadlines
Unternehmen hatten wiederholt kritisiert, dass viele Anforderungen des AI Acts gar nicht umgesetzt werden könnten, weil harmonisierte europäische Standards noch fehlen. Die Kommission reagiert:
Die Fristen für Hochrisiko-KI-Systeme werden künftig an die Verfügbarkeit dieser Normen gekoppelt. Ohne frühere Beschlüsse gilt:
- Anhang III ab 2. Dezember 2027,
- Anhang I ab 2. August 2028.
Generative KI, die bereits im Einsatz ist, erhält Übergangsphasen.
Erleichterungen für KMU: Proportionalität als neues Prinzip
Besonderes Augenmerk legt Brüssel auf kleine und mittlere Unternehmen. Die bisherige Pflicht, KI-Kompetenz zwingend nachzuweisen, entfällt. Stattdessen sollen Mitgliedstaaten Bildungsangebote fördern, aber nicht verbindlich verlangen.
Neu eingeführt werden außerdem Definitionen für KMU und sogenannte Small Mid-Caps. Für sie gilt: Qualitätsmanagement ja, aber angepasst an die tatsächliche Unternehmensgröße. Ein realistischerer Ansatz, der gerade Start-ups Luft verschaffen soll.
Ein gestärktes AI Office und Sandboxes für Europa
Die Aufsicht wird zentralisiert: Das AI Office übernimmt künftig die exklusive Überwachung von KI-Systemen, die auf Allzweckmodellen desselben Anbieters basieren, sowie von KI in sehr großen Plattformen.
Zudem schafft die EU erstmals einheitliche regulatorische Sandboxes auf europäischer Ebene – Reallabore, in denen KI-Anwendungen unter echten Bedingungen getestet werden können. Für bestimmte KI-Systeme verliert die Registrierungspflicht ihre Gültigkeit, wenn sie trotz Aufnahme in die Hochrisiko-Liste kein signifikantes Risiko darstellen.
Start frühestens 2027 – aber schon heute ein politisches Signal
Auch wenn die neuen Regeln frühestens 2027 in Kraft treten werden, sendet die EU bereits jetzt eine klare Botschaft an Wirtschaft und Forschung: KI soll nicht länger unter Generalverdacht stehen. Der Rechtsrahmen soll Innovation ermöglichen und zugleich die Grundrechte schützen – ohne die lähmende Bürokratie der Vergangenheit.
Europa versucht mit diesem Paket, aus der Defensive zu kommen und eine eigene digitale Identität zu formen: technologisch kraftvoll, regulatorisch verantwortungsvoll und wirtschaftlich konkurrenzfähig.
Der „Digital Omnibus 2025“ markiert damit nicht nur eine Gesetzesreform, sondern einen politischen Wendepunkt – den Versuch, die Kluft zwischen technologischer Entwicklung und europäischem Regelwerk endlich zu schließen.
