Anlässlich des 15. Todestags von Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn weist das langjährige Kollegiumsmitglied Daniel L. Schikora auf einen Nachruf hin, der seinerzeit in der Printausgabe des EUROjournal pro management erschien.
Am 3. August starb der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn mit 89 Jahren. Die Beisetzung fand auf dem Friedhof des Moskauer Donskoj-Klosters statt, das sich Solschenizyn als letzte Ruhestätte selbst ausgesucht hatte.
Im Zentrum des literarischen Werkes Solschenizyns stehen die Aufklärung über die Dimensionen des sowjetischen Totalitarismus, von dessen Verfolgungsmaßnahmen er selbst heimgesucht wurde, und die Verteidigung von Russlands christlich-europäischem Erbe (bei gleichzeitigem Bekenntnis zu der zivilisatorischen Errungenschaft des Zusammenlebens verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen innerhalb des russischen Staatsverbandes).
Bereits Solschenizyns Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, die infolge des in den 1950er Jahren einsetzenden „Tauwetters“ in der Sowjetunion veröffentlicht werden konnte (1962), widmet sich vermittelst der Beschreibung des Alltags eines Gefangenen in einem sowjetischen Lager dem System des staatlich organisierten Terrors der Stalin-Ära. Nachdem Solschenizyn 1970 der Literaturnobelpreis verliehen worden war, wurde er – in der Ära Breschnew, der die für die Chruschtschow-Periode kennzeichnenden Ansätze einer (partiellen) Liberalisierung zu suspendieren trachtete – ausgebürgert.
Über die Auswirkungen von Solschenizyns 1974 erschienenem Hauptwerk „Archipel Gulag“ auf die westeuropäische Linke führt Frank Schirrmacher aus:
„Als der „Archipel Gulag“ 1974 schließlich in Paris erschien, veränderte sich die Tektonik der intellektuellen Welt. Wie benommen von der Wucht des Materials schrieb Heinrich Böll in dieser Zeitung: „Ja, ja und nochmals ja“. Wutentbrannt liefen die westlichen Verteidiger des Kommunismus zwischen den Trümmern eines zusammengestürzten Weltbildes umher. Solschenizyn hatte nicht nur die Kerker, die Folterzellen und die Arbeitslager gezeigt. Er hatte behauptet, dass die Baupläne des Systems selbst auf schreckliche Weise missraten seien und immer nur wieder zu Gefängnis und Stacheldraht führen könnten: Der stalinistische Terror sei kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern Wesensmerkmal der marxistischen Ideologie.
Was dann geschah, ist ein Kapitel westlicher Mentalitätsgeschichte geworden. Während in Frankreich die jungen „Meisterdenker“ um André Glucksman und Bernard-Henri Lévy den „Archipel Gulag“ zum Gründungsdokument einer antimarxistischen Geschichtsphilosophie machten, blieb der „Solschenizyn-Schock“ in Deutschland zunächst aus. Und doch konnten 1989, auch dank der nachwachsenden Generationen, ernstzunehmende Menschen keine Illusionen mehr über den Unrechts- und Repressionsapparat der kommunistischen Systeme haben.“ (FAZ.NET, 5.8.2008)
Nachdem Solschenizyn nach seiner zwangsweisen Exilierung zunächst in der Bundesrepublik Deutschland bei Heinrich Böll Zuflucht gefunden hatte, siedelte er in die Schweiz und anschließend (mit seiner Familie) nach Cavendish in Vermont über. Glasnost und Perestrojka ermöglichten eine Rehabilitierung Solschenizyns in der UdSSR und schließlich – im Mai 1994 – die Rückkehr des Schriftstellers in seine russische Heimat.
Irritationen rief Solschenizyn seit den 1990er Jahren vielfach bei einigen seiner (zeitweiligen) Sympathisanten im „Westen“ hervor, die – wie auch André Glucksmann – unter dem Banner der Verurteilung des Sowjettotalitarismus – aus ihrer feindseligen Haltung auch gegenüber dem gegenwärtigen Russland Jelzins und Putins sowie dessen (vermeintlichen oder wirklichen) weltpolitischen Ambitionen keinen Hehl machten. Solschenizyn trat demgegenüber in den vergangenen Jahren für die Verteidigung einer Politik der Konsolidierung der legalen Institutionen der Russischen Föderation ein. In diesem Kontext begrüßte er beispielsweise 1999/2000 Russlands militärisches Vorgehen gegen islamistische Mordbrenner und Sklavenhändler in Tschetschenien und anderen Regionen des nördlichen Kaukasus.
Auch im Hinblick auf die Verwurzelung der Kulturtraditionen der russischen Orthodoxie etwa in der Ukraine schreckte Solschenizyn nicht vor Stellungnahmen im Sinne eines nationalpatriotischen Konservatismus zurück, die ihm den verleumderischen Vorwurf eines engstirnigen Nationalismus eintrugen. Der von (west-)ukrainischen Nationalisten betriebenen Instrumentalisierung stalinistischer Verbrechen für gegenwärtige Zwecke im Kontext der Debatte über den „Holodomor“ – die Hungersnot in der Ukraine 1932/33 infolge der Kollektivierung der Landwirtschaft – erteilte er eine schroffe Absage. „Er bezeichnete die ukrainische Position als Neuauflage der ‚teuflischen Verdrehungen der bolschewistischen Agitprop‘, mit der Zwietracht zwischen ‚verwandten Völkern‘ gesät werden soll. Der Nobelpreisträger wies darauf hin, dass bereits im Jahr 1921 in Sowjetrussland eine Hungersnot geherrscht habe und also von einer bewusst gegen die ukrainische Nation gerichteten Vernichtungsaktion nicht die Rede sein könne.“ (NZZ, 9.4.2008)
In diametralem Gegensatz zu der Verherrlichung des „militärischen Humanismus“ der Neuen Nato, die „Neue Philosophen“ wie Glucksmann und Lévy mit einstigen prosowjetischen „Friedensfreunden“ Westeuropas vereinte, stand die kompromisslose Ablehnung des Rechtsbruchs der grundlosen Bombardierung Jugoslawiens im Frühjahr 1999 durch Solschenizyn:
„Nachdem sie die Vereinten Nationen auf den Müll geschmissen und ihre Charta mit Füßen getreten hat, proklamiert die Nato der Welt für das kommende Jahrhundert ein altes Gesetz – das des Dschungels: Der Stärkere hat immer recht. Übertreffe den von dir verurteilten Gegner in der Gewalt – und sei es hundertfach –, wenn deine Hochtechnologie es zulässt. Und in dieser Welt lädt man uns nunmehr ein, zu leben.
Unter den Augen der Menschheit ist man dabei, ein großartiges europäisches Land zu zerstören, und die zivilisierten Regierungen applaudieren. Wenn die Menschen in Verzweiflung die Schutzräume verlassen und Menschenketten bilden, um unter Einsatz ihres Lebens die Donaubrücken zu retten, ist das nicht der hohen Taten der Antike würdig? Ich sehe nicht, was Clinton, Blair und Solana morgen davon abhalten könnte, sie bis zum letzten Mann auszulöschen, mit Feuer und Wasser.“
Alexander Solschenizyn verkörpert das Antlitz eines patriotischen Konservatismus, der sich der Inhumanität jeglichen Totalitarismus und nationalchauvinistischer Agitation verweigert.
Von Kollegiumsmitglied Daniel L. Schikora
(Erstveröffentlichung in: EUROjournal pro management, 4/2008)