Anfang Mai 1919 kam es bei den Friedensverhandlungen mit Deutschland in Versailles zum Eklat: Der deutsche Außenminister Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau habe sich eklatant beleidigend verhalten. So die damals einhellige Meinung, die letztendlich das Ergebnis der Verhandlungen bereits reflektierte. Hier eine Analyse der Vorgänge in zwei Teilen.
Teil 2: Die deutsche Strategie und eine Fehlannahme
In der Programmatischen Erklärung nach seiner Ernennung am 24. Dezember 1918 bezeichnete der deutsche Außenminister Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau die Herbeiführung eines Rechtsfriedens auf dem Fundament von Präsident Wilsons Friedensprogramm als seine erste und vornehmste Aufgabe.
In der Programmatischen Erklärung bei Amtsantritt am 2. Januar 1919 sagte Rantzau: „Wahrheit und Offenheit dem eigenen Volke wie dem Auslande gegenüber. Das deutsche Volk soll im Unglück seine innere Größe und Würde bewahren. Selbsterniedrigung wie Überhebung vermeiden; … Einen Frieden der Gewalt, der Vernichtung und Versklavung lehne ich ab … Solange ich an dieser Stelle stehe, wird dafür gesorgt werden, dass Deutschland seine Zusagen gewissenhaft einlöst, …“.
Vor der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung hielt Rantzau am 14. Februar 1919 eine Programmrede, in der er seine Pläne für die deutsche Außenpolitik vorstellte, die dominiert war von den anstehenden Friedensverhandlungen.
Konsequent und vehement setzte Deutschland auf die vierzehn Punkte, die Präsident Wilson in seinem Friedensprogramm genannt hatte. Deutschland war bereit, eine Republik zu werden und umfassende Reparationsleistungen zu leisten. Die Friedensanfrage und die Antwort der Alliierten vom 5. November 1918, mit der sie das Friedensgesuch auf Basis der vierzehn Punkte angenommen hatten, sah Deutschland als Vorvertrag, für beide Seiten bindend und als Kern der Friedensstrategie.
Deutschland erwartete, als gleichwertiger Partner mit den Alliierten die Einzelheiten des Friedensvertrags verhandeln zu können. Es sollte ein Rechts- und kein Diktatfrieden sein. Wirtschaftlich sollte der Friedensvertrag so ausgestaltet sein, dass Deutschland schnell wieder auf die Beine käme, was auch im Interesse der Alliierten wäre, weil Deutschland nur so die geforderten Reparationen leisten könnte.
Man erwartete, dass eine unabhängige Kommission eingesetzt würde, die über die Kriegsschuld urteilen würde. Ein Urteil der ehemaligen Feinde lehnte man ab, da Kläger nicht gleichzeitig Richter sein könnten. Die Ehre Deutschlands sollte gewahrt werden. Ohnehin hatte Deutschland sich nicht als Kriegstreiber gesehen, sondern sich in der Verteidigungsrolle gesehen.
Ebenso hielt Deutschland die Schaffung eines Völkerbundes für einen guten Schritt, um zukünftig kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden und Konflikte auf diplomatischem Weg klären zu können. Deutschland wollte sich aktiv für den Völkerbund einsetzen und sah sich auch dabei wie bei den Friedensverhandlungen als gleichberechtigten Partner, der an allen vom Völkerbund zu treffenden Entscheidungen teilhaben würde. Eine längere Wartezeit bis zum Beitritt oder eine Stellung, in der man lediglich Entscheidungen entgegennehmen müsste, lehnte man ab.
Die Strategie beinhaltete ebenfalls die Absicht, dass Deutschland sich den ehemaligen Feinden gegenüber, insbesondere den Amerikanern, als offenen, ehrlichen und konstruktiven, verlässlichen Partner beweisen wollte, denn auf Amerika setzte man große Hoffnung und wollte es, „in seinem eigenen Interesse allmählich auf unsere Seite führen“.
Diese Ziele waren in Rantzaus programmatischen Erklärungen und in seiner Programmrede enthalten. Sie sind, ergänzt um weitere Punkte und um für die Verhandlungen wesentliche Vorgaben, ebenfalls enthalten in den Richtlinien für die deutschen Friedensunterhändler vom 21. April 1919.
Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang eine Denkschrift von Friedrich von Boetticher, dem Vertreter der Oberheeresleitung bei der Waffenstillstandskommission vom 25. März 1919, in der er seine Gedanken über die bevorstehenden Friedensverhandlungen notierte. Es heißt dazu in einer Anmerkung, „Diese Denkschrift kann als Programm der Obersten Heeresleitung für die Deutsche Friedensdelegation aufgefasst werden.“
Boetticher geht von Friedensverhandlungen mit Deutschland als gleichberechtigtem Partner aus, obwohl Deutschland im Oktober 1918 erst zu einem Zeitpunkt um Friedensverhandlungen ersucht hat, als es militärisch bereits am Ende war. Sein Vokabular und seine Gedanken sind untypisch für eine unterlegene Kriegspartei.
Boetticher schreibt „Wir treten nicht an den Verhandlungstisch, um ein Diktat entgegenzunehmen, … Die erste Forderung ist, dass wir uns den Frieden nicht diktieren lassen, sondern Verhandlungen fordern … Gleichzeitig müssen wir von uns als erste Forderung sofort die aufstellen, dass die Frage der Schuld am Krieg geprüft wird.“ Und später „In unsicheren, unklaren Verhältnissen gibt es nur einen sicheren Faktor, den eigenen Willen, sich durchzusetzen und zu leben.“.
Die Schaffung des Völkerbundes war Boetticher zufolge sehr positiv, solange Deutschland als gleichberechtigter Partner Mitglied werden könnte. Sofern Deutschland dort lediglich als Objekt gesehen würde, hielt er es besser, wenn es gar keinen Völkerbund gäbe, da Deutschland in dem Fall nur noch fester von anderen Nationen eingekreist wäre. Diese Einschätzung findet sich ebenfalls im Protokoll einer Besprechung zwischen Rantzau und dem ersten Generalquartiermeister Groener.
Es gab im Vorfeld der Übergabe des Friedensvertragsentwurfs diplomatischen Austausch mit den Alliierten, in dem auch über den Vertragsentwurf und die Entgegennahme gesprochen wurde.
In seiner Antwortrede auf die Ansprache des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau am 7. Mai 1919 erkannte Rantzau die deutsche Niederlage an und fasste die Kernpunkte der deutschen Friedensstrategie zusammen. Er bestritt vehement die deutsche Alleinschuld und wies auf die vielen zivilen Hungertoten aufgrund der Blockade hin.
Da zu erwarten war, dass es keine Verhandlungen geben würde, hatte Rantzau nicht zur Übergabe des Friedensvertragsentwurfs reisen wollen, konnte sich dem aber nicht entziehen. Es blieb ihm die Möglichkeit, mit seiner Antwortrede die Kernaussagen der deutsche Friedensstrategie vorzutragen und erneut vehement die deutsche Alleinschuld zu bestreiten. Seine Rede dürfte auch beabsichtigt haben, die Alliierten von Verhandlungen zu überzeugen. Die Reaktion auf Rantzaus Rede aber zeigt, dass sie nicht gut aufgenommen wurde und die deutschen Ziele nicht gefördert haben dürfte.
Erste deutsche Friedensbemühungen hatte Erzberger bereits 1917 erarbeitet; sie waren nicht weiter verfolgt worden. Um einen Waffenstillstand ersuchte Deutschland erst 1918, auf Basis des Friedensprogramms von Präsident Wilson. Dieses Dokument und die Annahme des Ersuchens durch die Alliierten hatte Deutschland als für beide Seiten bindenden Vorvertrag betrachtet.
Vielleicht hätte die deutsche Strategie aufgehen können, wenn die USA an ihrem Friedensplan festgehalten hätten. Dort wollte man sich aber aus der europäischen Politik zurückziehen und entzog auch dem Völkerbund die Unterstützung. Damit stand Deutschland alleine und musste einen Diktatfrieden akzeptieren. Das Ende der Geschichte ist bekannt.
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