Anfang Mai 1919 kam es bei den Friedensverhandlungen mit Deutschland in Versailles zum Eklat: Der deutschen Außenminister Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau habe sich eklatant beleidigend verhalten. So die damals einhellige Meinung, die letztendlich das Ergebnis der Verhandlungen bereits reflektierte. Hier eine Analyse der Vorgänge in zwei Teilen.
Teil 1: Was war geschehen – und was wurde gesagt?
Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau soll vor Wut rot angelaufen sein. Ein Eklat, der einen langen Schatten auf die Konferenz warf, die eigentlich den 1. Weltkrieg endgültig abschließen sollte. Für den 7. Mai 1919 waren Vertreter des Deutschen Reichs nach Versailles geladen worden, um den Entwurf des Friedensvertrages entgegenzunehmen. Die Eröffnungsrede hielt Clemenceau stehend und in französischer Sprache. Das Ziel war klar, wie Oberst House, der engste Berater des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, beschreibt: „Die Affäre war sorgfältig inszeniert und war so gestaltet, dass sie für den Gegner so demütigend wie möglich wäre.“
Der deutsche Außenminister Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau hielt eine erheblich längere Antwortrede in deutscher Sprache und sitzend. Verhalten und Rede Rantzaus wurden aufs Schärfste kritisiert, denn sie haben provoziert, wie die Reaktion nicht nur des französischen Ministerpräsidenten zeigt: Der britische Premierminister Lloyd George soll in seinem Zorn einen Brieföffner aus Elfenbein zerbrochen und US-Präsident Wilson die Rede als „unaufrichtig, stupide und typisch preußisch“ bezeichnet haben. Es drängt sich die Frage auf, warum der deutsche Außenminister sich gerade zu diesem Anlass zu einer solchen Provokation hat hinreißen lassen.
Rantzaus Rede war die Antwort auf die Rede von Clemenceau, in der dieser sagte, dass die Stunde der Abrechnung da sei, es keiner überflüssigen Worte bedürfe und man um Frieden gebeten worden sei und ihn gewähre. Clemenceau betonte den Anspruch auf volle Entschädigung und schloss weitere Verhandlungen aus. Die Stimmung gegenüber den Deutschen sei „fassbar gewesen in der Ansprache des Versammlungspräsidenten Clemenceau, die“ – wie ein Teilnehmer berichtete – „mit kurzen abgehackten Sätzen, wie von konzentrierter Wut und Verachtung herausgestoßen wurden.“
Als Antwort wählte Rantzau aus zehn Reden, die er für diesen Anlass vorbereiten lassen hatte, die schärfste aus. Dazu blieb er sitzen, was in Deutschland bejubelt wurde, aber im Ausland als Unhöflichkeit, Arroganz oder Schwäche ausgelegt wurde. Es heißt, Rantzau habe damit die Würde Deutschlands wahren wollen, das sich nicht als Angeklagter fühlte. In einem Interview am 10. Mai 1919 in Versailles sagte Rantzau dazu, „Wenn ich sitzen blieb, während Clemenceau stand, so hatte das seinen wohlerwogenen Grund.“.
In seiner Rede erkannte Rantzau Niederlage und begangenes Unrecht, insbesondere in Belgien, an. Er bestritt aber vehement die deutsche Alleinschuld und wies auf Hunderttausende nichtkämpfende Hungertote durch Zögerlichkeit beim Waffenstillstand hin, forderte Hilfe bei Reparationszahlungen, damit Deutschland sie verkraften könne und hob die Bedeutung des Völkerbundes hervor. Insbesondere wies Rantzau auf die Grundsätze des amerikanischen Präsidenten als Friedensbasis hin und das Einverständnis der Alliierten mit diesen Grundsätzen – mit Ausnahme von zwei Punkten – wodurch diese bindend seien für beide Seiten. Rantzau veranschaulichte mit dieser Rede die Eckpunkte der deutschen Friedensstrategie und wollte die Verhandlungsbereitschaft der Alliierten wecken.
In der Einladung zur Übergabe der Friedensbedingungen hatte es geheißen, dass „die deutsche Delegation strengstens auf ihre Rolle beschränkt bleiben“ sollte. Daher hatte Rantzau geplant, den Vertragsentwurf nur von untergeordneten Beamten entgegen nehmen zu lassen. Allerdings forderte Clemenceau, dass die Delegierten ermächtigt seien, „über die Gesamtheit der Friedensfragen zu verhandeln“.
Laut Schwabe soll Rantzau sich bei seinen Vorbereitungen die Möglichkeiten offen gehalten haben, den Entwurf der Friedensbedingungen mit kurzer formeller Erklärung entgegenzunehmen oder die Gelegenheit zu nutzen, um im Namen der neuen demokratischen Regierung an die Alliierten zu appellieren, um Verhandlungsbereitschaft bei den Alliierten zu wecken.
Im Reichstag war am 17. Juli 1917 die Friedensresolution verabschiedet worden, deren Hauptinitiator Matthias Erzberger war. In dieser Resolution heißt es, der Reichstag erstrebe einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker. Mit einem solchen Frieden seien erzwungene Gebietsabtretungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar. Der Reichstag wies auch alle Pläne ab, die auf eine wirtschaftliche Absperrung und Verfeindung der Völker nach dem Kriege abzielten. Die Freiheit der Meere müsse sichergestellt werden. Nur der Wirtschaftsfriede werde einem freundschaftlichen Zusammenleben der Völker den Boden bereiten. Der Reichstag werde die Schaffung internationaler Rechtsorganisationen tatkräftig fördern.
Die konkrete Entscheidung, „unverzüglich ein Waffenstillstands- und Friedensangebot an den amerikanischen Präsidenten Wilson zu richten und diese Aktion innenpolitisch zu flankieren durch eine „Revolution von oben““ fiel im September 1918 in Spa, nach Eingeständnis der Kriegsniederlage und Drängen durch die Oberheeresleitung.
Im Gesuch an Präsident Wilson vom 3. Oktober nahm die deutsche Regierung das von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in der Rede vom 27. September aufgestellte Programm als Grundlage für die Friedensverhandlungen an.
Dieses Programm beinhaltet die Punkte der Friedensresolution von 1917. Die deutsche Regierung hatte mit Annahme des Friedensprogramms als Grundlage für Friedensverhandlungen den Rahmen für ihre eigene Friedensstrategie gesetzt. Sie war bereit, die darin enthaltenen Forderungen zu erfüllen und erwartete, dass, nach Annahme des deutschen Friedensersuchens auf dieser Grundlage, die Alliierten sich ebenfalls an die Punkte des Friedensprogramms halten würden.
Das Amt des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt wurde dem parteilosen Rantzau im Namen der Sozialdemokraten und der unabhängigen Sozialdemokraten durch den Volksbeauftragten Philipp Scheidemann nach Rücktritt von Dr. Wilhelm Solf im Dezember 1918 angetragen. Wie aus dem Schreiben von Rantzau an Scheidemann hervorgeht, hatte man ihn bereits vor der Ernennung von Solf gebeten; da hatte Rantzau jedoch abgelehnt.
Es ist anzunehmen, dass die Regierung Scheidemann sich bei der Besetzung des Amtes des Staatssekretärs des Auswärtigen Amts und angesichts der bevorstehenden Hauptaufgabe des Friedensschlusses bewusst für Rantzau entschieden hatte.
Zu Rantzaus Bedingungen zur Amtsübernahme gehörte, dass er bei der Lösung der inneren Fragen mitarbeiten sollte sowie die beschleunigte Einberufung der Nationalversammlung vor dem 16. Februar 1919 als Grundlage für eine verfassungsmäßige Exekutive. Es entsprach einer Forderung von Präsident Wilsons Friedensprogramm, der zufolge Verhandlungen nur mit einem demokratischen Deutschland möglich seien.