Mit Alfred Grosser verstarb im Alter von 99 Jahren ein Intellektueller, der wie kaum ein anderer jahrzehntelang am Auf- und Ausbau freundschaftlicher Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland mitwirkte. Dabei verstand sich der Historiker und Politikwissenschaftler Grosser, der als „einer der intellektuellen Wegbereiter“ des Elysée-Vertrages von 1963 galt (ZEIT online, 8.2.2024), nicht im engeren Sinne als Politiker. Grosser, 1925 in Frankfurt am Main in eine deutsch-jüdische Familie geboren, wurde bereits als Kind mit dem Rassenwahn des Nazismus konfrontiert: Sein Vater Paul Grosser, Professor für Kinderheilkunde, wurde zum Opfer eines Lehrverbots, die Familie siedelte nach Saint-Germain-en-Laye über. Alfred Grosser und seiner Mutter gelang es, nach der deutschen Besetzung von Paris 1940 unter dem (im Süden Frankreichs errichteten) Vichy-Regime zu überleben. In dieser Phase wurde er (wie er selbst es in seiner 1997 erschienenen Autobiographie schildert) zum Franzosen.
Zwischen 1956 und 1992 wirkte Grosser als Professor am Institut d’études politiques und als Studien- und Forschungsdirektor an der Fondation nationale des sciences politiques. Im Zentrum seiner publizistischen Tätigkeit standen die deutsch-französischen Beziehungen. Kennzeichnend für seine Betrachtungen der Herausforderungen und Chancen der bilateralen Verflechtung zwischen den beiden Nationen – nicht zuletzt in europäischer Perspektive – war stets eine schonungslose Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlich-kulturellen Phänomenen sowohl links als auch rechts des Rheins, die aus seiner Sicht einer Annäherung entgegenstanden oder die er aus prinzipiellen Gründen für kritikwürdig hielt. Im Bundestag trat Grosser dreimal als Ehrenredner auf: 1974 zum Volkstrauertag, 1999 und schließlich 2014, als im Reichstag des 100. Jahrestages der Entfesselung des I. Weltkrieges gedacht wurde.
Alfred Grosser um das Jahr 1930 beim Spaziergang mit Mutter, Vater und Schwester in Frankfurt am Main (Quelle: Wikipedia, gemeinfrei)
Nachdem ich das Glück hatte, als Student der Universität Erfurt Prof. Grosser erstmals in einer Podiumsdiskussion in der Kleinen Synagoge kennenzulernen, und ihm ein paar Jahre später im Rahmen einer Vortragsveranstaltung in Paris erneut begegnete, nahm er sich am 6. Juni 2006 die Zeit für ein ausführliches Gespräch, um das ich ihn im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Laizität als Staatsprinzip der französischen Republik gebeten hatte. Schwerpunktmäßig sollte es um die Frage gehen, ob die Religionspolitik der damaligen französischen UMP-Regierung insbesondere gegenüber dem „französischen Islam“ eine Aufkündigung der institutionellen Laizität darstelle. Ausgangspunkt des Interviews mit Grosser war dessen Stellungnahme in einem Interview mit dem Rheinischen Merkur vom 8.12.2005, in dem Grosser sich einerseits zu den in Frankreich zur Geltung gebrachten Prinzipien der Laizität bekannt und für eine Überwindung des deutschen Staat-Kirchen-Systems plädiert hatte, während er andererseits die Überwindung der „harten Laïcité“ in Frankreich begrüßte.
Im Folgenden ein paar Passagen dieses Gesprächs, die vielleicht ein Quäntchen dazu beitragen können, die Vielseitigkeit der thematischen Interessen wie der theoretisch-normativen Ansprüche eines der herausragendsten deutsch-französischen Europäers (sowohl gegenüber Frankreich als auch gegenüber Deutschland) zu dokumentieren. Die (grenzübergreifende) aggressive Infragestellung laizistisch-republikanischer Prinzipien durch religiöse Fanatiker, aber auch durch „säkulare“ Verfechter einer wissenschafts- und vernunftfeindlichen Cancel Culture lassen Grossers Ausführungen von 2006 als beklemmend aktuell erscheinen.
Zu Laizität und freier Religionsausübung:
Sie würden also die Laïcité als conditio sine qua non eines modernen demokratischen Systems betrachten, oder sogar als eine unabdingbare Voraussetzung der Rechtsstaatlichkeit?
Grosser: Unbedingt. Vor allen Dingen, wenn sie so behandelt wird wie jetzt in Frankreich, wo natürlich nicht das zutrifft, was überall in Deutschland geschrieben wird: Es findet keine Verbannung der Kirchen in die Privatsphäre statt; die Kirchen verhandeln mit dem Staat, auch über gesellschaftliche Fragen. Die katholischen Schulen genießen seit 1959 als Teil der éducation nationale den gleichen Status wie die nichtkonfessionellen öffentlichen Schulen. Wo bleibt da die deutsche Vorstellung einer strikten Verbannung der Religion ins Privatleben?
Zum „Kopftuchgesetz“ vom Februar 2004:
Stellt die auf den Stasi-Bericht folgende Verabschiedung des sog. Kopftuchgesetzes, das tatsächlich nicht nur das Kopftuch in öffentlichen Räumen ächtet, sondern in öffentlichen Schulen ebenfalls andere auffällige religiöse Symbole, einen Akt der Symbolpolitik dar?
Grosser: Ja. Ich hätte dieses Gesetz nicht so geschrieben, und ich bin auf der Seite jener witzigen Lehrer, die ein Gegenargument fabriziert und gesagt haben: Zuerst einmal müsste man die Größe jeden Schülers feststellen, denn ein kleines Kreuz auf einem großen Schüler ist viel kleiner, als auf einem kleinen Schüler. Allerdings haben sich erstaunlicherweise die Dinge insofern gelöst, dass es sehr wenige Konflikte gegeben hat – dass die meisten Mädchen ohne weiteres den Schleier entfernt haben, und dass man langsam darauf zugeht, was in Deutschland vorgeschlagen worden ist und wofür ich wirklich wäre: dass alle Schüler die gleiche Kleidung tragen. So war das bei uns in der école communale, bei Marcel Pagnol, im Buch und im Film, ist es immer noch so. Alle Mädchen waren mit dem gleichen weißen, schlichten Kleid bekleidet, und das verschleierte die gesellschaftlichen Unterschiede, genauso wie heute bei der ersten Kommunion alle weiß gekleidet sind. Die früher getragenen Spitzen- oder teureren Kleider werden ausgeschlossen. Und die meisten muslimischen Mädchen scheinen sich sehr willig dem Gesetz unterworfen zu haben, weil ihnen der Schleier von zu Hause auferlegt worden war, mehr als dass sie sich selbst für ihn entschieden hätten.
Zur Wertegebundenheit der laizistisch-republikanischen Verfassungsordnung:
Mit Blick auf insbesondere finanzielle Zugeständnisse beispielsweise gegenüber künftigen Moscheebauten, wie sie eben auch Sarkozy postuliert, stellt sich die Frage, ob ein solches Zugeständnis nicht nur eine radikale Form der Laïcité aufhebt, sondern grundsätzlich gegen laizistische Normen gerichtet ist.
Grosser: Nein. Es gibt da eine enorme Heuchelei. Die Kathedrale von Evry ist weitgehend mit staatlichen Geldern gebaut worden, weil Jack Lang angegeben hat, dass eine Art christliches Museum innerhalb der Kathedrale errichtet würde, und ein Museum darf ja staatliche Unterstützung bekommen. Also gibt man dem viel Geld, also hat der Bau der Kathedrale von Evry auch staatliche Gelder bekommen.
Sind Sie der Auffassung, dass dies ein vorbildhaftes laizistisches Handeln war?
Grosser: Nein. Ein laizistisches Handeln wäre gewesen, dass man jedenfalls diesen Passus (des Trennungsgesetzes von 1905) aufhebt und sieht, was man da tun kann. Was ich nicht laizistisch finde, ist, dass unsere Präsidenten Staatsbegräbnisse in der Kathedrale von Paris bekommen. François Mitterrand hatte eine katholische Totenfeier in seiner Geburtsstadt. Warum dazu noch Notre-Dame? Und wenn der Protestant Michel Rocard oder der Jude Robert Badinter als Präsidenten gestorben wären?
Könnten Sie die Prinzipien und Normen des Laizismus oder einer pluraleren Laïcité …
Grosser: Das Wort „Laizismus“ gefällt mir nicht, denn es ist keine Übersetzung von Laïcité, sondern von Laïcisme, was etwas anderes ist.
Sie identifizieren den „Laizismus“ im Grunde mit einer kämpferischen Bewegung gegen den Klerus, so wie wir sie vor allem im 19. Jahrhundert hatten.
Grosser: Ja. Was in Deutschland anders ist und eigentlich verschwinden müsste, sind die Grundeinstellungen von Frau Merkel, von Frau von der Leyen und von meinem ehemaligen Studenten Axel von Campenhausen. Letzterer schreibt in seinem „Staatskirchenrecht“, dass der neutrale Staat keine Werte habe. Was ist denn dann das Grundgesetz? In wessen Namen waren wir denn gegen Hitler? Nicht im Namen von Werten? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte: hat der keine Werte? […]
Zum ‚Kommunitarismus‘ als Herausforderung der laizistischen Republik:
Als nächstes würde ich gern übergehen zu dem Phänomen, das man im weiteren Sinne als „islamischen Kommunitarismus“ bezeichnen könnte. Der Gymnasiallehrer Louis Chagnon wurde durch einen Disziplinarausschuss gerügt, weil er seine Schüler damit konfrontiert hat, dass durch den Religionsstifter Mohammed anti-jüdische Massaker und Pogrome angeordnet wurden.
Grosser: Ja. Aber da gibt es in ganz Frankreich momentan Einschüchterungen von allen Seiten: Momentan gibt es die „schwarze“ Einschüchterung, wenn zum Beispiel ein großer Professor, der ein hervorragendes Buch über Sklaverei geschrieben hat – über alle Sklavereien –, sofort des anti-schwarzen Rassismus bezichtigt und verklagt wird. Er kommt vor Gericht, weil er nicht nur die Weißen, die Schwarze versklavten, erwähnt hat, sondern auch die Schwarzen, die Schwarze versklavten. Wir sind mit einer fürchterlichen Ausbreitung eines furchtbaren Kommunitarismus in Frankreich konfrontiert. Es taucht immer wieder ein neuer Kommunitarismus auf. Und die meisten Lehrer wagen gar nichts mehr zu sagen. Dazu kommt natürlich, dass der Islam, wie die amerikanischen protestantischen Fundamentalisten, kein Vatikanum II gekannt hat, und keine Enzyklika, die erlaubt, die Schriften zu untersuchen.
Zu Innenminister Sarkozys Vorstößen einer religionspolitischen ‚Liberalisierung‘:
Würden Sie Unterschiede machen zwischen dem Konzept, das Sie befürworten – und das auch Sarkozy bereits 2004 formuliert hat –, und dem Konzept, das Napoléon I. seiner Politik gegenüber den Juden und den Protestanten Frankreichs zugrunde legte?
Grosser: Er hat den Sanhedrin erzwungen, als Möglichkeit, die Juden Frankreichs offiziell anzuerkennen.
Sehen Sie dies als ein Vorbild der modernen Laïcité an?
Grosser: Nein, der Einmischung des Staates in das, was ihn theoretisch nichts angeht, d. h. die Schaffung einer Gemeinschaft des islamischen Frankreich. Die deutschen Kirchen fürchten das, weil dann auch die Kirchensteuern verteilt werden müssen.
Sarkozy übernimmt also auch Ihrer Auffassung nach bestimmte Strukturen oder Formen der Politiken aus der Phase vor der gesetzlichen Einführung der Laïcité 1905.
Grosser: Nein. Es sind neue Versuche, mit einem neuen Fall. So etwas wie der Islam ist noch nicht da gewesen. Und Schäuble seinerseits versucht etwas ähnliches, nach dem Vorbild Sarkozys. Da sind sich die Innenminister sehr einig.
Kann überhaupt noch von einem spezifisch französischen Modell oder Konzept der Laïcité gesprochen werden?
Grosser: Bei uns ist „la République“ ein moralischer Begriff, in Deutschland ist der moralische Begriff „die Wirtschaft“. Das Wort gibt es auf Französisch nicht.
Aber im Prinzip sehen Sie die „Republik“ oder auch die Laïcité nur noch als einen moralischen Begriff, also einen Begriff, der auch in der politischen Auseinandersetzung genutzt werden kann, auf den aber relativ unabhängig von bestimmten staatsrechtlichen oder institutionellen Strukturen zurückgegriffen wird?
Grosser: Die staatsrechtlichen Strukturen sind bei uns sowieso nicht so entwickelt, wie das deutsche Staatskirchenrecht. Baubérot oder Rémond berufen sich weit weniger auf das Recht, als auf dessen Grundlagen, die Grundprinzipien, und deren konkrete Auswirkungen. Die Kirchen in Deutschland haben viel mehr Staatskirchenrecht – und viel Geld. Jetzt ist ein neuer Konflikt ausgebrochen: Benedikt XVI. will die deutsche Kirche zwingen, dass sie aufhört, die Möglichkeit zu behalten, denjenigen, der seine Kirchensteuer nicht entrichtet, zu exkommunizieren. Das Fortschrittliche findet sich diesmal in Rom.
Das allgemeine Sozialrecht gilt auch für unsere Kirchen, Gewerkschaften, usw. Ich nehme das Beispiel einer unserer Schwiegertöchter – sie ist unsere Schwiegertochter, obwohl sie mit unserem dritten Sohn nicht verheiratet ist –, sie hat drei große Kinder aus erster Ehe, sie und mein Sohn haben zusammen ein Kind, sie ist katholisch – und sie ist Arbeitsdirektorin unseres größten katholischen Verlags. Das wäre in Deutschland alles nicht möglich. Das ist in Frankreich besser.
Könnten Sie die Prinzipien und Normen der Laïcité in ihrer modernen Ausprägung, wie wir sie heute diskutieren, definieren, in Abgrenzung von dem alten Konzept von 1905?
Grosser: Man braucht keine Aggressivität gegen die Kirche. Manchmal gibt es die allerdings noch. Der Bischof von Clermont, der ein Freund ist, hat im vorletzten Dezember Dachau besucht, in Erinnerung an seinen Vorgänger, der nach Dachau deportiert wurde und dort einen deutschen Diakon zum Priester weihte. Und er wollte zum Rathaus gehen, um dies auszudiskutieren. Dann erschien ein Flugblatt, der Bischof solle nicht zum Rathaus, und der Bischof hat sehr hart geantwortet: „Ich bin ein Bürger wie jeder andere auch. Natürlich gehe ich zum Rathaus.“ Und er ist zum Rathaus gegangen. In Clermont zum Beispiel gibt es noch die harte alte Laïcité, die in der Politik vertreten wird von jemandem wie Senator Charasse, einem Freund Mitterrands. Aber das nimmt ebenso ab. Zum Beispiel ist der Canard enchaîné viel weniger hart anti-klerikal, als er es früher gewesen ist. Die Fronten sind viel durchlässiger geworden. Hier liegt ein großer Verdienst bei Michel Debré mit dem Schulgesetz von 1959.
Kardinal Lustiger stellte in seiner Rede auf der großen Kundgebung von 1994 fest, dass die école confessionnelle offener denn je sei. Dass auch keine soziale Selektion stattfinde, trifft leider nicht auf Paris zu, aber weitgehend auf das gesamte Frankreich, wo fast überall die Schulen völlig offen sind und islamische Kinder, jüdische Kinder usw. da sind und mitwirken. Hier haben wir es mit der Anwendung des Konziltextes über die Gewissensfreiheit zu tun.
Zur Unvereinbarkeit ‚religiöser’ Rechtfertigung des Krieges mit der Laizität:
Grosser: […] Nicht mit dem Geist der Laïcité vereinbar ist allerdings, dass man einen Gott nennt, von dem niemand weiß, was er ist. Er ist heute etwas ganz anderes als vor hundert Jahren. Ich weiß nicht, ob Sie den schönen Film Joyeux Noël gesehen haben über die Verbrüderung in den Schützengräben am 24. Dezember 1914. In diesem Film tritt ein schöner Priester auf, der heute jedem europäischen Christen entspräche, der froh ist, die Messe lesen zu können für die Deutschen, die Schotten und die Franzosen, und ein furchtbarer Bischof, der aber so spricht, wie Ihre und unsere Bischöfe 1914. Und wer hat sich da verändert? Die Christen – außer George W. Bush und die amerikanischen Fundamentalisten, die so sprechen wie die französischen und die deutschen Bischöfe 1914: Wir siegen! Gott mit uns! Der Feind muss zermürbt werden!
Von unserem Kollegiumsmitglied Daniel L. Schikora