Im Leitartikel der FAZ vom 21. Januar 2025, der „Bayrou am Scheideweg“ zum Gegenstand hat, beklagt Michaela Wiegel mit guten Gründen, dass auch der deutsche Bundestagswahlkampf „bislang nicht auf gestalterischen Ehrgeiz für die deutsch-französische Beziehung in der EU“ hindeute; der Besuch des Bundeskanzlers in Paris aus Anlass des 62. Jahrestages des Élysée-Vertrages wirke „mehr wie eine Pflichtübung“ des Regierungschefs, der einen Ausbau der freundschaftlichen Beziehungen zu Frankreich auch derzeit zumindest nicht als europapolitische Priorität betrachtet. In diesem Kontext warnt Wiegel (die bereits 2018 mit dem Band „Emmanuel Macron. Ein Visionär für Europa – eine Herausforderung für Deutschland“ für eine wohlwollende Auseinandersetzung der Deutschen mit den Positionen des dezidiert ‚proeuropäischen‘ französischen Staatsoberhaupts warb) aktuell davor, Macron deutschlandpolitisch zu unterschätzen, ihn gar für eine ‚lahme Ente‘ zu erklären: „Auch wenn Macron aus den vorgezogenen Wahlen“ im Juni/Juli 2024 „geschwächt hervorgegangen ist, bleibt er bis 2027 ein Präsident mit weitreichenden außen- und sicherheitspolitischen Befugnissen. Macron kann sich auf einen Erfahrungsschatz mit Präsident Donald Trump stützen, der in Berlin viel stärker genutzt werden sollte. Das Verhältnis nach Paris sollte gerade in Krisenzeiten besser gepflegt werden.“
Genau in dieser Linie, allerdings in gewisser Hinsicht weniger Macron-zentriert, plädiert der ZEIT-Autor Ulrich Ladurner für eine substantielle Festigung der EU nach innen nicht zuletzt im Hinblick auf die Notwendigkeit, künftigen Feindseligkeiten der US-Administration adäquat begegnen zu können. (DIE ZEIT, 23.1.2025) Nach Trumps Amtsantritt müsse innerhalb der EU „Schluss sein mit dem billigen Populismus zum Schaden Europas“. Dabei gehörten auch Leichtgewichte wie die Regierungschefs Ungarns und der Slowakei „eingereiht“, nachdem es sogar im Falle der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gelungen sei, die „inneren bösen Geister – man glaubt es kaum – geräuschlos, leichtfüßig, en passant geradezu“, zu zähmen. „Warum schließlich“, fragt Ladurner, „sollte, was mit Meloni gelang, nicht auch mit der anderen großen Nationalistin Europas gelingen, mit Marine Le Pen?“
Dabei war es in Paris dem zentristischen Premierminister François Bayrou ein paar Tage zuvor gelungen, eine Misstrauensabstimmung in der Nationalversammlung nicht nur zu überstehen, sondern dabei auch zu vermeiden, als ein von der Gunst des RN abhängiger Regierungschef zu erscheinen. Dies wäre der Fall gewesen, hätte er es nicht vermocht, den größten Teil der Abgeordneten der französischen SPD-Schwesterpartei PS davon abzubringen, dem Misstrauensantrag der linkspopulistischen LFI zuzustimmen (was lediglich 8 der 66 PS-Parlamentarier taten). Da auch der RN (anders als im Falle des Sturzes von Bayrous Amtsvorgänger Michel Barnier) den LFI-Antrag nicht unterstützte, erhielt dieser nur 131 der 288 benötigten Stimmen (die Nationalversammlung umfasst 577 Sitze). Als von entscheidender Bedeutung für die Mehrheit der Sozialdemokraten, Bayrou zu stützen, können dessen Zugeständnisse hinsichtlich der von den Linksparteien eingeforderten Nachverhandlungen an der im März 2023 verabschiedeten Rentenreform gelten, die im Kern eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre bis 2030 festlegt. Dass diese Reform überhaupt zustande kam, beruhte auf dem Scheitern eines Misstrauensvotums gegen die damalige Regierung Élisabeth Borne, dessen Erfolg die Reform hätte zu Fall bringen können.
Die harten Auseinandersetzungen über das für Macrons ordnungspolitische Reformbestrebungen zentrale Projekt einer Rentenreform sind bis heute ein Kristallisationspunkt jener gesellschaftlich-kulturellen Bruchlinie zwischen der Linken und dem ‚Macronismus‘. Bayrou wurde und wird als einem in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen eher sozialkonservativen Christdemokraten zugetraut, diesen Bruchlinienkonflikt, wenn nicht zu überwinden, so doch erheblich zu entschärfen (was letztlich Voraussetzung des politischen Überlebens seiner Regierung ist, soweit er diese nicht – was abwegig wäre – in eine vollständige Abhängigkeit von den taktischen Interessen Le Pens führen will). Perspektivisch geht es nach wie vor darum, die Gesamtheit der Sozialdemokratie aus ihrem fragilen Bündnis mit den nicht nur der Regierung (und dem Präsidenten), sondern der laizistischen Republik als solcher feindselig gegenüberstehenden Kohorten der LFI des Hamas-Apologeten Jean-Luc Mélenchon herauszulösen, im besten Fall ebenso die kleineren gemäßigten Parteien der Linken (PCF und Grüne). Die Verteidigung der Laizität und die Stärkung eines nach rechts wie nach links hin offenen liberal-republikanischen Zentrismus, dem es gelingen würde, das gesamte republikanische Spektrum (parteipolitisch ausgedrückt: von den Kommunisten bis zu den Républicains) für bestimmte Anliegen zu mobilisieren, waren dem am 22. Januar verstorbenen Journalisten und politischen Publizisten Jean-François Kahn eine Herzensangelegenheit. 1997 gründete er gemeinsam mit Maurice Szafran das Magazin Marianne, in den Präsidentschaftswahlen von 2007 und 2012 unterstützte er Bayrou.
Zum Foto: Blick auf ein Seine-Ufer von Paris im Januar 2025 (Foto: Elisabeth Otto)