Die Bildung einer Regierung gestaltet sich in Spanien heute nicht mehr so unkompliziert wie zu Zeiten, als die beiden großen Parteien, die PSOE (Sozialdemokraten) und die konservative Volkspartei PP, allein regieren konnten. Schon in der letzten Legislaturperiode unter Ministerpräsident Sánchez wurde die Regierung erstmals in der jungen spanischen Demokratie zu einer Koalitionsregierung. Die jüngsten Wahlen am 23. Juli haben die Fragmentierung des Parteienspektrums und die politische Polarisierung im Land weiter bestätigt, was sowohl die Regierungsbildung als auch das politische Klima erheblich beeinflusst hat.

Obwohl die PP bei den Wahlen vom 23. Juli die meisten Stimmen erhielt, konnte der PP-Vorsitzende, Feijóo, nicht die erforderliche Mehrheit im Parlament erlangen, um zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden. Dies lag daran, dass er für die Regierungsbildung auf die 33 Stimmen von Vox angewiesen war, einer rechtsextremen franquistischen Partei, die nicht nur viele Wähler aus der Mitte und von links, sondern auch rechte nationalistische Parteien wie die baskische PNV oder Junts per Catalunya erschreckt. Feijóo warb um die Unterstützung dieser beiden konservativen Regionalparteien, sie lehnten es jedoch ab, ihm bei der Wahl zum Ministerpräsidenten ihre Zustimmung zu geben, und die Wahl scheiterte.

Infolgedessen beauftragte der König Sánchez mit der Bildung einer Regierung, und er hat dies am 16. November erreicht. Dieser gesamte Prozess war jedoch von erheblicher politischer Unruhe begleitet.

Um dies zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass die PP zwei große Enttäuschungen erlebt hat: Erstens blieb sie weit hinter der Mehrheit zurück, die Umfragen vorhergesagt hatten, und zweitens stellte sie fest, dass sie weitgehend isoliert ist im spanischen Parlament und bei anderen Parteien auf begrenzte Gesprächsbereitschaft stößt. Sie kann die benötigte Mehrheit weder mit den großzügig angebotenen 33 Stimmen der rechtsextremen franquistischen Partei Vox erreichen, da ihre Beteiligung andere Parteien abschreckt, noch kann sie ohne Vox regieren.

Die Sozialdemokraten der PSOE hingegen haben die Fähigkeit, mit allen Parteien im gesamten politischen Spektrum zu verhandeln, außer mit Vox. Und im Gegensatz zur PP sind die Sozialisten auch politisch in Katalonien sehr präsent. Die Sozialisten stellen die stärkste Fraktion im katalanischen Parlament mit 33 Abgeordneten, während die PP nur 3 Abgeordnete hat. Bei diesen Wahlen zum spanischen Parlament haben die Sozialisten in Katalonien mit 19 von 48 Sitzen mehr als doppelt so viele katalanische Abgeordnete wie alle Nationalisten zusammen und weit mehr als die PP mit nur 6 Sitzen.

Diese unbequeme Situation für die Konservativen in einer der wichtigsten und reichsten Regionen Spaniens wird als eine direkte Konsequenz angesehen der erwiesenen Inkompetenz der letzten konservativen Regierungen Rajoy gegenüber den katalanischen Fragestellungen. Die Politik des Dialogs und der Verständigung der letzten Regierung Sanchez hingegen hat zu einer merklichen Reduzierung der Separatismustendenzen und zu einer Normalisierung des politischen und wirtschaftlichen Lebens in der Region geführt. Das bedeutet aber keineswegs, dass es Sánchez dabei leicht hat.

Um jetzt eine Regierungsmehrheit zu bilden, musste Sánchez Zugeständnisse an die katalanischen Separatisten machen, die nicht in seinem Wahlprogramm vorgesehen waren, insbesondere eine Amnestie für diejenigen, die in Straftaten im Zusammenhang mit dem einseitigen Unabhängigkeitsaufruf von 2017 verwickelt waren.

Dies führte dazu, dass die PP bereits vor der genauen Ausgestaltung des entsprechenden Gesetzentwurfs eine heftige Kampagne aus Verlautbarungen und Protesten gegen diese Maßnahme startete. Diese Maßnahme wurde als notwendig erachtet, um die 7 Stimmen von Junts per Catalunya zu gewinnen. Pedro Sánchez begründete sie damit, dass sie seine Politik der Begnadigung und des Dialogs mit den katalanischen Separatisten, die sich bereits als äußerst erfolgreich bei der Normalisierung der Lage in der Region erwiesen hat, weiterführen und abschließen würde.

Straßenunruhen

Jedoch betrachten viele Bürger dies als den Versuch von Pedro Sánchez, aus der Not eine Tugend zu machen, zumal er und andere Politiker seiner Partei sich zuvor als „nicht verfassungsmäßig“ zur Amnestie geäußert hatten. Die PP wiederum betrachtet die Amnestie als nicht verfassungsgemäß, als einen Angriff auf den Rechtsstaat und die Gleichheit aller Spanier. Vox geht sogar so weit zu behaupten, dass es sich um einen Staatsstreich handelt, der absichtlich darauf abzielt, die spanische Nation zu zerstören.

Tatsächlich wird in der spanischen Verfassung die Amnestie nicht ausdrücklich erwähnt, aber sie wird auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Viele Verfassungsrechtler zweifeln nicht an der Verfassungsmäßigkeit eines zukünftigen Amnestiegesetzes, das vom Parlament ordnungsgemäß verabschiedet wäre. Letztendlich wird wohl das Verfassungsgericht über diese Frage entscheiden müssen, da sowohl die PP als auch Vox Berufung gegen das Gesetz einlegen werden. Die Emotionen laufen hoch, und auf den Straßen kam es bereits zu Ausschreitungen.

Die PP hat zu landesweiten Demonstrationen gegen die Amnestie am Sonntag, den 12. November, aufgerufen, und Hunderttausende von Bürgern sind friedlich in ganz Spanien auf die Straßen gegangen. Dennoch werden die Äußerungen der Parteiführer von einigen politischen Analysten als besorgniserregend angesehen.

Der PP-Parteiführer Feijóo spricht von „Korruption“ und „Wahlbetrug“, weil die Amnestie nicht im Wahlprogramm der Sozialisten stand und kündigte an, dass die Proteste so lange fortgesetzt würden, bis es zu Neuwahlen komme. Bedeutende Teile der Richterschaft sehen im Vorhaben Sánchez‘ einen Angriff auf die Gewaltenteilung, da in der Vereinbarung zwischen PSOE und Junts von sogenannten „lawfare“-Fällen die Rede ist, d. h. vom Missbrauch der Justiz in der Verfolgung politischer Ziele. Die einflussreiche PP-Regierungschefin der Region Madrid, Isabel Díaz Ayuso, bekannt für ihre Trump-ähnlichen Äußerungen, spricht von einer „Diktatur durch die Hintertür“. Und der Führer der rechtsextremen Partei Vox, Abascal, zögerte nicht, wie gesagt, von einem „Staatsstreich“ zu sprechen, eine Behauptung, die er sogar im Parlament in einer Rede voller Hass und Beleidigungen gegen Pedro Sánchez wiederholt und verteidigt hat. Diese scharfen Worte schüren, wie zu befürchten ist, starke Emotionen auf den Straßen.

Tatsächlich erleben wir seit schon vierzehn Tagen nicht so friedliche Demonstrationen vor dem Hauptquartier der PSOE in Madrid und anderen Hauptquartieren der Sozialdemokraten in den Provinzen. Dabei sind nicht nur Parolen gegen Sánchez, sondern auch gegen den König, die Verfassung und die Medien zu hören. Krawalle, Beschimpfungen und Angriffe auf die Polizei mit Wurfobjekten sind an der Tagesordnung. Der Führer der rechtsextremen Partei Vox, obwohl er offiziell friedliche Demonstrationen befürwortet, erscheint täglich an vorderster Front vor dem Hauptquartier der PSOE in Madrid. Am Montag, dem 11. November, war er sogar in Begleitung von Tucker Carlson, dem Fox News-Star, der als einer der Hauptverbreiter der „Wahlbetrug“-Lüge bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 bekannt ist, die unter anderem zum Angriff auf das Kapitol führte. All dies ist kein gutes Omen für die neue Regierung Sánchez.

Die neue Regierung

Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der neuen Regierung gibt es keinen Zweifel. Sánchez wurde am 16. November mit 179 Stimmen zum neuen (alten) spanischen Regierungschef gewählt, die 12.506.682 Wähler repräsentieren. Er hat bereits seinen Amtseid vor dem König abgelegt. Zum Vergleich: Feijóo scheiterte am 29. September mit 172 Stimmen, die 11.292.066 Wähler repräsentieren. Die absolute Mehrheit im Parlament liegt bei 176 Stimmen.

Dennoch bedeutet dies nicht, dass Sánchez eine ruhige Legislaturperiode erwartet. Viele Bürger verstehen nicht den Schwenk von Sánchez in Richtung Amnestie und sind verärgert. Und, wie gesagt, die konservative Volkspartei PP hat eine harte Opposition und weitere Straßenzüge angekündigt, während die extreme Rechte im Aufwind ist und droht, die Straßen zu nehmen.

Aber das ist nicht alles. Die alte Koalitionsregierung Sanchez mit der linkspopulistischen Podemos und ihrem charismatischen Führer Iglesias war schon nicht leicht. Inzwischen ist aber Iglesias außerhalb der Politik, und seine Vertretung im Parlament ist auf fünf Abgeordnete geschrumpft. Nun sind sie im Linksbündnis Sumar unter der Führung von Yolanda Díaz, die bereits als Arbeitsministerin in der vorherigen Regierung große Erfolge erzielte und ein enges Verhältnis zu Sánchez pflegt. Sumar unterzeichnete bereits einen Koalitionsvertrag mit der PSOE und wird der einzige Koalitionspartner in der Regierung sein. Die Zusammenarbeit mit der PSOE verspricht diesmal reibungsloser zu verlaufen als mit Podemos in der vergangenen Legislaturperiode. Die Parlamentsmehrheit ist jedoch von fünf kleineren Regionalparteien abhängig, die sich der Schwäche der Regierung ohne ihre Unterstützung bewusst sind. Ein Misstrauensvotum ist dennoch nicht in Sicht, da keine dieser Parteien eine alternative Regierungsbildung mit PP und Vox anstrebt.

Die internationale Situation, die wirtschaftliche Konjunktur, die polarisierte politische Stimmung im Land sowie die offensichtlichen internen Schwächen einer Minderheitsregierung lassen bereits erahnen, dass harte Zeiten auf den neuen spanischen Ministerpräsidenten zukommen. Diese könnten jedoch gemildert werden, falls er, paradoxerweise, weiterhin Unterstützung aus dem rechten Lager erhält. Es ist nämlich denkbar, dass die vehementen Angriffe von rechts dem parlamentarischen Block des Ministerpräsidenten zugutekommen, wie es bereits in der vergangenen Legislaturperiode der Fall war.

Regierungsprogramm/Europa

In Bezug auf das Regierungsprogramm und Europa möchte die neue Regierung Sánchez ihre bekannte feministische, grüne und sozial ausgerichtete Politik fortsetzen.

Besonders hervorzuheben ist im Bereich der Energie- und Umweltpolitik das Ziel der spanischen Regierung, bis 2030 mindestens die Hälfte des Energiekonsums aus erneuerbaren Quellen zu beziehen und die günstigen nationalen Bedingungen für die Erzeugung von Wind-, Sonnen- und Wasserkraft zur Produktion von grünem Wasserstoff zu nutzen. Dieses Vorhaben hat bereits eine europäische Dimension erreicht: Spanien, Frankreich, Deutschland und Portugal haben sich darauf geeinigt, bis 2030 eine Wasserstoffpipeline zu errichten, die rund 2 Millionen Tonnen grünen Wasserstoff nach Frankreich transportieren soll.

Als überzeugter Europäer befürwortet Sánchez nicht nur eine integrierte Energiepolitik in Europa, sondern auch entschlossene Schritte in Richtung einer strategischen Autonomie der EU, einer grünen Umweltpolitik sowie Verbesserungen im Migrations- und Asylrecht der Union. Seine Regierung wird sich weiterhin für eine entschlossene Unterstützung der Ukraine gegen die russische Invasion und für deren EU-Beitritt einsetzen.

Basierend auf dem Programm und den bisherigen Erfahrungen ist nicht damit zu rechnen, dass die neue spanische Regierung Konflikte mit den Institutionen der EU auslösen wird. Im Gegensatz dazu hätte eine Regierung aus PP und Vox möglicherweise für neue Spannungen auf der europäischen Bühne gesorgt, vergleichbar mit den aktuellen Regierungen in Italien, Ungarn oder Polen. Vox pflegt besonders gute Beziehungen zu diesen Regierungen.

Interessanterweise war die Situation von Donald Tusk in Polen und Sánchez in Spanien nach den jeweiligen Wahlen sehr ähnlich. Obwohl Tusks Konservative und Sánchez‘ Sozialisten nicht die meisten Stimmen erhielten, hatten sie doch die besten Chancen, eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament zu bilden. Sánchez ist es gelungen, und viele Europäer würden es begrüßen, wenn Donald Tusk dasselbe erreichen könnte.

Von Kollegiumsmitglied Dr. Vicente Rodríguez Carro

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