Der Europaverein GPB e.V. aus Eschweiler gehört zu den langjährigsten Partnern der Fördergesellschaft für Europäische Kommunikation. Erst in dieser Woche präsentierte das langjährige Vorstandsduo Annelene Adolphs und Peter Schöner, die den Verein aus Nordrhein-Westfalen seit der Gründung 1991 führen, die designierte neue Präsidentin Andrea Wolff (dazu ein andermal mehr). Heute wendet sich der amtierende Präsident Peter Schöner mit einem Beitrag zum Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 aus europäischer Sicht zu Wort.   

Ursprünglich fand der 17. Juni 1953 europaweit enorme Beachtung. Er war ein denkwürdiges europäisches Ereignis. Anschließend ist er als „Tag der deutschen Einheit“ in der Bundesrepublik national vereinnahmt und zugleich verengt worden. In der DDR wurde der Tag mit einem Tabu belegt und geriet zur „verdrängten Revolution“. Mittlerweile ist kein anderer Tag der DDR-Geschichte so umfassend erforscht wie der Volksaufstand des 17. Juni. Aber die rein nationale Ikonisierung ließ ihn aus dem Geschichtsbewusstsein Europas verschwinden. 

Vier Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer schrieb Rudolf Augstein 1965 in „Der Spiegel“, der Feiertag des 17. Juni, der „Tag der deutschen Einheit“ sei die Lebenslüge der Bundesrepublik. Hatte der streitbare Spiegel-Herausgeber etwa Recht? Auf den ersten Blick mag es von heute aus gesehen durchaus so scheinen. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung von 1990 der Feiertag des 17. Juni abgeschafft worden ist? Gehört diese ostwestlich vereinbarte Abschaffung, gehört dieser sang- und klanglose Untergang eines Symbols nicht zu den seltsamsten Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung?

Als Europaverein GPB haben wir dennoch diesem Gedenktag in Abständen immer unsere Aufmerksamkeit geschenkt. Da ist unsere eigene Ausstellung im Jahr 2007, die wir auf der Mitgliederversammlung präsentierten und auch – vielleicht etwas unkonventionell – im UFERLOs (Dank an Inhaber Willi Lehnen) auch längere Zeit aushängen konnten.

Später präsentierten wir die Ausstellung „Wir wollten freie Menschen sein“ zum 17. Juni 1953 im Jahre 2013 im Eschweiler Rathaus.

Der 17. Juni 1953 steht aber in unserer europäischen Erinnerungskultur nach dem II. Weltkrieg nicht allein da.

Der Bannfluch Chruschtschows gegen Stalin löst in Polen und Ungarn Volksaufstände aus. Während in Polen Forderungen durchgesetzt werden, erfährt die ungarische Bewegung eine blutige Niederschlagung.

Auf dem 20. Parteitag der KPdSU schleudert Nikita Chruschtschow einen Bannfluch gegen Josef Stalin aus, der drei Jahre zuvor verstorben war. Vor den überraschten Delegierten wirft er Stalin Despotismus, Willkür, Terrorismus und Machtmissbrauch vor.

Diese politische Sensation weckt in Polen und später in Ungarn Hoffnung auf demokratische Veränderungen.

Im Juni gibt es in Posen einen Volksaufstand. Erstaunlich offen sind die Prozesse gegen die Initiatoren. Die Strafen fallen mild aus. Vier Monate später weiten sich in Warschau Studentenproteste zu einem Volks- und Arbeiteraufstand aus. Die Demonstranten fordern die Wiedereinsetzung Wladislaw Gomulkas. Dieser wird wieder 1. Sekretär der polnischen KP. Außerdem wird Kardinal Wyszynski, der seit 1953 inhaftiert ist, freigelassen.

Am 23. Oktober 1956 beginnt die ungarische Tragödie mit einer friedlichen Studentendemonstration in Budapest. Am Abend fallen erste Schüsse in die Menge.

Ein blutiger Kampf fängt an. Die Zentrale der Geheimpolizei wird gestürmt. Der 1948 zu lebenslänglich verurteilte Kardinal Mindszenty wird befreit. Panzer werden erobert. In der Stadt bleiben keine sowjetischen Panzer. Elf Tage bleibt die Stadt in den Händen der Freiheitskämpfer. Es sind viele Opfer zu beklagen, viele Gebäude sind zerstört.

Am 4. November rücken sowjetische Panzer und Infanterieeinheiten in die Stadt ein und ersticken den Kampf in Blut und Tränen. Zehntausende Ungarn flüchten nach Österreich.

In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 rücken Truppen von fünf Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakische Sozialistische Republik (CSSR) ein. Damit werden die als „Prager Frühling“ bezeichneten Reformversuche der kommunistischen Partei der CSSR gewaltsam beendet. Der Erste Sekretär der Partei, Alexander Dubcek, wird mit dem gesamten Politbüro verhaftet und in die Sowjetunion gebracht. Am 26. August 1968 müssen sie im „Moskauer Protokoll“ die Rücknahme der eingeleiteten Reformen versprechen. Dubcek wird dann im April 1969 zugunsten eines moskautreuen Nachfolgers abgesetzt.

Die Geschichte der Freiheit in Europa geht aber weiter. Beispiele ist die Solidarnosc-Bewegung 1980 in Polen, in der Ukraine 2004 die Orangene Revolution und der Maidan 2014.

Dem 17. Juni messe ich immer noch eine besondere Bedeutung zu. Allerdings wurde der 17. Juni im Laufe der Zeit bei vielen ein willkommener Urlaubstag. Das soll nicht mit dem 3. Oktober geschehen!

Heute stehen wir vor der Frage wie es um unsere Demokratie bestellt ist? In Europa, weltweit? Eine Demokratie ist nicht selbstverständlich und kein Selbstläufer! Deutschland musste im letzten Jahrhundert zwei Diktaturen überstehen – die Aufarbeitung dieser Vergangenheit dauert bis heute an. Auch beim Blick in die Welt zeigt sich, dass Demokratie und Freiheit zunehmend unter Druck geraten, autoritäre Regime und Diktaturen eher sogar zunehmen. Demokratie lebt von Demokratinnen und Demokraten.

Der 17. Juni zeigt, dass das Streben nach Freiheit auch im weiteren Sinne in ganz Europa, ob im Westen oder im Osten, präsent war. Freiheit meint dabei: die Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens, das Recht auf Diversität, das Aufbegehren gegen Unterdrückung, die Herrschaft des Rechts.

Ich halte eine „Kontextualisierung“ des Aufstandes in die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts für geboten. Statt ihn ausschließlich in eine nationale Meistererzählung zu integrieren, sollte er in den Kontext eines Freiheit suchenden Europas nach den Traumata der beiden Weltkriege gestellt werden. Der Untergang des alten Europas im Ersten Weltkrieg, anschließend in einigen Ländern eine Selbstbehauptung und ein Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seinen Krieg, sodann Aufstände im Sowjetblock, 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in Prag, 1970, 1976 und seit 1980 in Polen; aber auch die Überwindung rechter Diktaturen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Süden Europas, in Griechenland, Spanien, Portugal, schließlich die Revolutionen im Osten seit 1989. Welch eine Vielfalt an Grenzüberschreitungen innerhalb von Diktaturen, welch ein Panorama von Verzweiflung und Niederlagen, Selbstbefreiung und Siegen.

Europa habe, das wird uns immer gern eingeredet, ein gravierendes Defizit, es besitze keinen Gründungsmythos. Wir haben doch einen: Überwindung von Diktaturen, Durchbrüche zur Freiheit und Aufbau von Zivilgesellschaften. Oder, um den Ruf der Aufständischen von 1953 zu zitieren: „Wir wollen freie Menschen sein!“

Von Kollegiumsmitglied Peter Schöner, Europaverein GPB e.V.

Zum Foto: Aufnahme aus dem Archiv der Friedrich Ebert Stiftung, Basis für die Ausstellung des Europavereins aus dem Jahre 2007 (Quelle: Europaverein GPB e.V.)

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