Epidemien hat es immer wieder in der Geschichte der Menschheit gegeben. Zwei davon, bereits aus der Antike, sind uns besonders bekannt: die sogenannte Attika-Seuche und die Antoninische Pest.

Die erste, die im Jahre 430 v. Chr. vor allem die Stadt Athen heimsuchte, wurde vom griechischen Historiker Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges beschrieben. Auffallend ist bei Thukydides‘ Beschreibung der Epidemie, dass der demos, das Volk, während der Seuche ein Sonderverhalten an den Tag legte, das uns an das Verhalten heutiger Negationisten erinnert. Ausschreitungen, Missachtung der Normen, Plünderungen, Morde und Verunglimpfung der Götter standen damals an der Tagesordnung.

Es scheint, als ob sich das Verhaltensmuster des Homo sapiens bei ähnlichen Krisensituationen und trotz kultureller Unterschiede ähnlich wiederholt, wie wir heutzutage in den Nachrichten aus aller Welt feststellen können. Wenn die rassische Einheit des Homo sapiens aufgrund eindeutiger DNA-Befunde nicht schon klar wäre, könnte diese Konstante im Verhaltensmuster während einer solchen Existenzkrise der Spezies als ein klares Indiz dafür interpretiert werden.

Die andere, ebenfalls wohlbekannte Epidemie der Antike, ist die Antoninische Pest, so genannt nach dem damaligen Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (161-180 n. Chr.). Sie hat vom Jahre 165 an rund 24 Jahre gedauert. Bezeichnend ist, dass in dieser Zeit ein weiser Kaiser, Marc Aurel, herrschte und ein berühmter Arzt, Galenus, ihm zur Seite stand. Die Medizin konnte damals noch wenig ausrichten, außer einer guten Beschreibung der Symptome, die uns Galenus hinterlassen hat.

Der Stoiker-Kaiser aber hat uns gezeigt, wie eine weise Verwaltung in solchen Situationen vorgehen kann: er hat schon versucht, Teilterritorien zu isolieren, hat Spitäler gebaut und soziale Ausgaben für Witwen, Waisen und Arme verfügt, wofür er sogar sein persönliches Vermögen verkaufte. Und dabei hat er es geschafft, seine durch die Epidemie dezimierten Legionen mit kreativen Lösungen wiederherzustellen und die Einheit des Reiches zu wahren.

Vergangene und heutige Epidemien

Dennoch unterscheiden sich die attische und die antoninische Epidemien in zwei wichtigen Aspekten von der heutigen.

Auf der einen Seite ist bei der Attika-Seuche das passive Subjekt, d.h. der demos, das Volk, geographisch auf die Bewohner eines Teiles von Griechenland begrenzt, auch wenn, wie Thukydides schreibt, die Krankheit angeblich aus Ägypten stammen sollte.

Bei der Antoninischen Pest verbreitete sich die Krankheit, anscheinend aus China stammend, von Mesopotamien aus, wo römische Legionäre infiziert wurden, bis zur iberischen Halbinsel, und erfasste die Bevölkerung des ganzen römischen Reiches jener Zeit. Dennoch war sie noch keine Pandemie im strengen Sinne des Wortes.

Heutzutage aber, in der Zeit der Globalisierung, erfasst das Übel schon die ganze Menschheit. Es handelt sich also um eine Pandemie im wahrsten Sinne des Wortes, nur einigermaßen vergleichbar mit der in Kansas, USA, 1918 entstandenen sogenannten „Spanischen Grippe“, die auch praktisch durch die ganze Welt grassierte und schätzungsweise rund 50 Millionen Todesopfer forderte.

Bei jener Grippe, wie bei allen anderen Epidemien der Vergangenheit auch, konnte die Medizin noch sehr wenig oder gar nichts ausrichten, und der Ausgang der Seuche war letztlich ein (grausames) Ergebnis der Naturauslese mit nicht unerheblichen Konsequenzen für Zahl und Struktur der Bevölkerung.

Globale Auswirkungen im wahrsten Sinne des Wortes und eine weitgehende Beherrschung des Naturverlaufsder Krankheit durch den hohen Wissensstand der Medizin sind also die zwei wichtigsten Hauptmerkmale, die unsere jetzige Pandemie von vergangenen Epidemien unterscheiden.

Techne und Praxis

Aber eine Sache ist es, über einigermaßen adäquate Mittel zu verfügen (in diesem Fall über die Ergebnisse der medizinischen Forschung), um die Krankheit zu bekämpfen, und eine andere, sie adäquat anzuwenden. Das eine gehört in den Bereich der Techne, das andere in das Gebiet der Praxis.

Schon die alten Griechen haben zwischen Techne und Praxis unterschieden und dafür ein gutes Beispiel aus dem für Athen so wichtigen Schiffbau geliefert. Techne ist die Kunst, Schiffe zu bauen. Die Praxis entscheidet, unter Berücksichtigung von vielen und oft komplexen Bedingungen, wie viele und welcher Art Schiffe für den entsprechenden Zweck dem Schiffbauer, d.h. dem Techniker, in Auftrag gegeben werden und wie die Besatzung nachher mit den Schiffen umgeht. Die Praxis, mit anderen Worten, gehört in den Bereich der praktischen Vernunft, d. h. der Ethik und der Politik und bezieht sich auf das bewusste Verhalten des Menschen.

In unserem Fall ist darüber hinaus festzustellen, dass, während im Bereich der Medizin und der Wissenschaft im Allgemeinen die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte große Fortschritte gemacht hat, die Entwicklung im Verhalten der Menschen seit Thukydides Zeiten, wie wir schon angedeutet haben, mit der wissenschaftlichen Entwicklung nicht Schritt gehalten und sich kaum geändert hat. Und, dementsprechend, haben wir vielerorts gesehen, wie das Fehlverhalten vieler Bürger sowie das Fehlverhalten der verantwortlichen Politiker einer adäquaten Bekämpfung der Krankheit im Wege gestanden haben. Daraus lassen sich einige Lehren ziehen.

Befolgung der Normen und Zusammenarbeit

Die Negationisten beispielsweise haben uns vor Augen gestellt, dass ihr Fehlverhalten sowohl den anderen als auch ihnen selbst schadet. Und diese Tatsache erläutert paradigmatisch, was die eigentliche Funktion der Normen (letztlich Moral und Gesetz) ist, nämlich das Wohlergehen der Gesellschaft im Ganzen zu garantieren. All zu oft ist man sich aber dieser Erkenntnis nicht bewusst.

Im Fehlverhalten der Politiker sind die üblichen Korruptionsaffären im Bereich der Mittelbeschaffung (z.B. Gesichtsmasken) aufgefallen, so wie der kaum verdeckte Anfangsversuch einiger Regierungen, der Seuche sozialdarwinistisch zu begegnen und den sozial Schwächeren nicht den erforderlichen Schutz zugewähren. Dieser Anfangsversuch wurde allerdings bald aufgrund des Drucks einer öffentlichen Meinung, die die Rettung des Lebens aller als Priorität verstand, aufgegeben.

Aber wo sich das Fehlverhalten der Politiker auch als paradigmatisch gezeigt hat, ist die Behandlung der Pandemie als solcher. Bei der heutigen globalen Mobilität ist anerkanntermaßen die Gefahr der Ansteckung global. Angesichts dieser Tatsache haben viele Regierungen und Organisationen versprochen, dabei auch global zu helfen. Wir sehen aber, dass, trotz der erkannten Notwendigkeit, die ganze Weltbevölkerung zu impfen, in Afrika, nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation, bisher nur rund 3% der Bevölkerung des Kontinents geimpft worden sind. Partikuläre, meistens nationale Egoismen, wie so oft, stehen im Wege, um das Notwendige zu tun, obwohl die Welt genug Ressourcen dafür hätte.

Dieser Mangel an globaler Solidarität und Kooperation, wenn auch hier paradigmatisch, weil es besonders offensichtlich ist, dass das Interesse der einzelnen mit dem Interesse aller zusammenfällt, findet auch in anderen Bereichen statt, wie beispielsweise in der Klimafrage oder bei Kriegen mit mehr oder weniger globalen Auswirkungen, wie jetzt bei Putins Krieg.

Die Vernunft stellt dabei zwar einen global geltenden Anspruch, diese Probleme ebenfalls global in effektiver Form anzugehen. Aber anders als in den einzelnen Staaten herrschen im internationalen Bereich noch hobbesianische Verhältnisse, und der Anspruch bleibt im Grunde machtlos. Nur ein Weltstaat oder etwas Gleichwertiges könnte dem Anspruch eine ihm entsprechende Durchsetzungsmacht verleihen. Aber ein Weltstaat ist allerdings noch als blanke Utopie zu bezeichnen. 

Dennoch scheint es, dass die Geschichte des Homo sapiens zu einem Punkt gelangt ist, wo sich für ihn die Existenzfrage erneut global stellt. 

Wie paläontologische Befunde neueren Datums bezeugen sollen, verdankt der Mensch sein Überleben gegenüber anderen Tieren, inklusive anderen Tieren der Spezies homo, seinen ausgeprägten kooperativen Fähigkeiten sowie der frühen Entwicklung von Wurfwaffen. Aber auch das Unvernünftige, bis hin zur eigenen Vernichtung als Spezies, war und ist eine reale Option seiner Natur, – nicht zuletzt durch die Zerstörung der eigenen Umwelt mangels einer Kooperation, die ausnahmslos die ganze Menschheit erfassen sollte, oder durch die Einwirkung von vernichtenden Wurfwaffen neuerer Faktur.

Von Kollegiumsmitglied Dr. Vicente Rodríguez Carro

Zum Foto: Im 19. Jahrhundert hat sich der französische Maler Jules-Élie Delaunay in seinem Werk “Der Todesengel klopft während der Pest in Rom ans Tor” mit der Antoninischen Pest künstlerisch auseinandergesetzt (Quelle: Wikimedia Commons).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert