„Wie tickt Europa“ – Nachrichten aus Europa Nr. 11/2022
Seit vielen Jahren leistet unsere Partnerorganisation GPB Europaverein e.V. aus Eschweiler mit den „Nachrichten aus Europa“ einen aus dem EUROjournal pro management nicht mehr wegzudenkenden Beitrag. „Wie tickt Europa“ gibt einen schönen Überblick, wie die wichtigsten europäischen Themen in den führenden Publikationen der EU-Mitgliedsstaaten aufgenommen werden.
Brüssels Plan für Energieunabhängigkeit
Die EU-Kommission hat am Mittwoch ihren RepowerEU-Plan vorgestellt, der die Abhängigkeit von russischer Energie reduzieren und den Grünen Wandel beschleunigen soll. Dazu will die EU bis zu 300 Milliarden Euro für Darlehen und Zuschüsse mobilisieren. Neben massiven Investitionen sind Energieeinsparungen und ein gemeinsamer Beschaffungsmechanismus, ähnlich dem für Impfstoffe, vorgesehen. Ist das visionär oder zu viel gewollt?
Belgien – Le Soir – 19.05.2022
Probleme werden sich verschärfen
Dieser Plan kostet hunderte Milliarden und fordert hohe Opfer der Mitgliedstaaten, analysiert De Morgen:
„Und dann beginnen die politischen Probleme: Wer wird das bezahlen? … Es ist bezeichnend, dass Ungarn bereits seit zwei Wochen den europäischen Boykott von russischem Öl blockiert. Es besteht das Risiko, dass die EU gar nicht selbst entscheiden muss, sondern Putin das erledigt. Er hat bereits Polen und Bulgarien vom russischen Gas abgekoppelt, weil sie sich weigern, in Rubel zu bezahlen. In den nächsten Monaten können andere Länder dieselbe Behandlung bekommen.“
Polen – Interia – 20.05.2022
Neuer Lebenssinn der EU durch Putin
Interia ist begeistert:
„Putin hat den Gashahn für Polen und Bulgarien zugedreht? Hier ist die Antwort: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen stellt den RepowerEU-Plan vor. … Die europäische Einheit ist heute kein Hirngespinst von Bürokraten, sondern eine Idee für die Zukunft. Eine gemeinsame Bedrohung, die real und greifbar ist, eint Europa. Sie weckt die Menschen aus ihrer Lethargie und erfordert ehrgeizige Zukunftspläne. Wir haben endlich ein Ziel! Ein gemeinsames Ziel! Eine europäische Idee! So hat die Europäische Union durch Wladimir Putin einen neuen Lebenssinn und eine neue Daseinsberechtigung erhalten.“
Italien – Il Manifesto – 20.05.2022
Krieg ist riesiger Rückschlag fürs Klima
Dass statt Gas jetzt wieder verstärkt Kohle und Öl eingesetzt werden, verpestet Luft und Klima einmal mehr, warnt Il Manifesto:
„Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation starben 2016 mehr als vier Millionen Menschen an den Folgen von Luftverschmutzung. … Und sie tötet nicht nur die heute Lebenden, sondern ebnet auch den Weg für den Tod derjenigen, die heute Kinder oder noch nicht geboren sind. … Der Krieg in der Ukraine verursacht [zudem] einen großen globalen Rückschlag im Kampf gegen den Klimawandel und ist nicht nur heute für Tod, Zerstörung und Migration verantwortlich, sondern auch mitverantwortlich für den Tod, die Zerstörung und die Migration, die in den kommenden Jahrzehnten überall auf der Welt aufgrund von Wetterkatastrophen und verminderter Nahrungsmittelproduktion auftreten werden.“
Niederlande: Wie schnell geht eine Energiewende?
Die niederländische Regierung will ab 2026 fossile Heizungen verbieten und den Einsatz von Wärmepumpen subventionieren. Die Neuerung geschieht auch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und Europas Plänen, sich aus der Abhängigkeit von fossiler Energie aus Russland zu befreien. Die nationale Presse ist skeptisch, dass eine schnelle Umstellung funktionieren kann.
De Telegraaf – 20.05.2022
Netzkapazitäten erhöhen
In der Praxis ist der Umstieg auf saubere Energie nicht so einfach, bemängelt De Telegraaf:
„Mit Sonnenkollektoren kann man nicht nur seinen eigenen Strombedarf decken, sondern bei ausreichend Sonnenschein auch selbst Strom ans Netz liefern . … Soweit die Theorie. Doch in der Realität sieht das anders aus. Denn wenn die Sonne richtig scheint, wird die Spannung im Stromnetz in Wohnvierteln mit einer überalterten Infrastruktur zu hoch, und dann schaltet das Sicherheitssystem die Sonnenkollektoren aus. … Was für eine Blamage. Wenn der Staat will, dass Bürger auf grünen Strom umsteigen, muss er dafür sorgen, dass das Stromnetz trägt.“
Niederlande – NRC Handelsblad – 20.05.2022
In der Isolierung liegt die Crux
NRC Handelsblad-Kolumnist Christiaan Weijts weist die Regierung auf grobe Lücken in ihrer Energiepolitik hin:
„[Hybride Wärmepumpen] sollen erst in einem gut isolierten Haus Sinn haben. … Nun soll es ein nationales Isolationsprogramm geben, aber dessen feierlicher Start hat offenbar in aller Stille stattgefunden. … Vermieter und Wohnungsbaugesellschaften könnte man verpflichten, ihre Wohnungen zu isolieren. Einfaches Glas? Ritzen [in der Dämmung]? Überfällige Renovierungen. Sorgt dafür, dass das vor dem Winter repariert ist, sonst wird die Energierechnung happig. Erst wenn die Isolierung in Ordnung ist und die größte Energiearmut gebremst, kann man die folgenden Schritte in Angriff nehmen, wie Wärmepumpen oder Sonnenboiler. “
Frankreich: Aufruhr um neuen Bildungsminister
In Frankreich wird die Ernennung von Pap Ndiaye, Historiker und Vordenker der französischen Anti-Rassismus-Bewegung, zum neuen Bildungsminister von Konservativen und Rechten heftig kritisiert: Ndiaye mache sich mit identitätspolitischen Ideen aus den USA gemein und greife damit die Werte der Republik an. Der Streit um seine Person geht an den wichtigen Problemen vorbei, meint die Landespresse.
Frankreich – L’Obs- 22.05.2022
Deplatzierte Debatte
Es wäre besser, wenn sich die Lager beruhigen und gemeinsam auf drängendere Fragen konzentrieren würden, unterstreicht Mara Goyet, Autorin und Lehrerin, in L’Obs:
„Die teils heftigen, teils begeisterten Reaktionen erwecken den Eindruck, dass wir in den Schulen unsere Zeit damit verbringen, uns zu fragen, ob der Unterricht über die Vorgeschichte in der 6. Klasse nicht etwas zu ethnozentrisch ist oder ob anatomische Abbildungen in Lehrbüchern nicht inklusiver sein sollten. … Für all diejenigen, die es vergessen haben: Staatliche Bildungspolitik bedeutet auch, sich zu sorgen, wenn Schüler den ganzen Tag nicht auf die Toilette gehen, weil die Sanitäranlagen so eklig sind. … Es geht hier um Matheschwächen und Rückstände beim Schreiben, beim mündlichen Ausdruck und vielem mehr.“
Frankreich – Mediapart – 22.05.2022
In der Kritik scheint Rassismus durch
Mediapart bereitet die politische Offensive gegen Ndiaye Sorgen:
„Die Ernennung zeigt, dass struktureller, tief verwurzelter Rassismus für einen Teil der französischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse kennzeichnend ist. … Der groteske Charakter der Offensive, deren Opfer Ndiaye ist, könnte einen fast zum Lachen bringen, wenn sie nicht so gefährlich wäre. Diejenigen, die das Porträt eines extremistischen und gefährlichen Historikers zeichnen, haben Pap Ndiaye, einen Intellektuellen mit ruhiger Stimme und gewichteten Thesen, der jedes Wort haargenau abwägt, sicher weder gelesen noch gehört.“
Frankreich – Le Figaro – 20.05.2022
Symbolkraft statt Know-How
Die Ernennung hatte rein strategische Gründe, ärgert sich die Lehrerin und Autorin Barbara Lefebvre in Le Figaro:
„Wurde er wegen seiner Expertise – die er nicht hat – ernannt oder eher wegen dem, was er symbolisiert? Handelt es sich nicht vielleicht um eine zynische Botschaft Macrons an eine kleine Gruppe von Laizismus-Verteidigern, die sich gerne als liberale und vernünftige Linke geben und überrollt wurden, nachdem sie sich für Macrons Wiederwahl aufgeopfert hatten? … Soll Pap Ndiayes mangelndes politisches Know-how dazu dienen, Gewerkschaften und Lehrer mithilfe von schwülstigem Geschwätz noch mehr einzulullen? Soll gerade er für Macron dessen angekündigte neoliberale und postmoderne Reform, die ‚Schule der Zukunft‘, durchsetzen?“
Ist das Weltwirtschaftsforum in Davos überholt?
Nach zwei Jahren Corona-Pause tagt das Weltwirtschaftsforum (WEF) wieder ganz real in Davos. Doch die globalisierte Alpen-Idylle ist nicht mehr, was sie einmal war: Chinas Präsenz ist wegen der dortigen Covid-19-Krise minimal, Russland aufgrund seines Kriegs gegen die Ukraine ausgeschlossen. Weltfrieden wie Welthandel wurden von der Realität eingeholt, schreiben Kommentatoren.
Deutschland – Handelsblatt – 23.05.2022
Die Unbeschwertheit ist vorbei
Für das Handelsblatt gibt es einiges zu besprechen:
„Etwa die Frage, wie sich international tätige Unternehmen durch die geopolitischen Klippen militärischer Konflikte, fragiler Staaten und unterbrochener Lieferketten durchmanövrieren. Es wird viel über einen neuen kalten Krieg gesprochen. Kaum ein Unternehmen ist jedoch darauf vorbereitet, wenn wieder Mauern um politische Einflusssphären gezogen werden. … Das Weltwirtschaftsforum sieht das Treffen in Davos als ‚historischen Wendepunkt‘. Sicher ist, dass Wirtschaftsführer und Politiker an einer Weggabelung stehen. Wohin sie sich wenden, ist jedoch unklar. Der Weg zurück zu relativ unbeschwerten Zeit nach dem Mauerfall ist jedenfalls erst mal versperrt.“
Schweiz – SonnTagsZeitung – 21.05.2022
Nur noch ein Schatten seiner selbst
Ohne die zweifelhaften Teilnehmer aus Russland und China verliert das WEF seinen globalen Anspruch, meint die SonntagsZeitung:
„So mächtig und elitär wurden die ‚Davos Men‘ in den letzten Jahren, dass sie nicht bemerkten, wie sie in Davos ihre rauschenden Partys zusammen mit unzähligen Diktatoren feierten, die dort nur eines suchten: die Festigung ihrer Macht mithilfe der globalen Wirtschaftselite. … Putin hat seinen wahren Charakter im Krieg mit der Ukraine gezeigt, Xi Jinping ruiniert im gleichen Moment mit seiner unsinnigen Null-Covid-Politik die chinesische Wirtschaft. … Das WEF in Davos wird auch zu den Verlierern gehören und vielleicht mit den ‚Davos Men‘ untergehen.“
Großbritannien – Financial Times – 23.05.2022
Die Zukunft gehört der Deglobalisierung
Warum sich die Verfechter der Globalisierung politisch und wirtschaftlich in der Defensive befinden, erklärt Kolumnistin Rana Foroohar in Financial Times:
„Die Gespräche [in Davos] werden sich um die Deglobalisierung und den Unmut darüber drehen. … Es stimmt schon, unsere jüngste Globalisierungsrunde hat global gesehen das höchste Wohlstandsniveau aller Zeiten geschaffen. Doch leider gibt es, wie der Ökonom Dani Rodrik betont hat, für jeden US-Dollar Effizienzgewinn durch Handel typischerweise eine Umverteilung in Höhe von 50 US-Dollar an die Reichen. Die wirtschaftlichen und politischen Folgen davon sind der Hauptgrund dafür, dass wir uns jetzt in einer Phase der Deglobalisierung befinden.“
EU-Beitritt: Wie lange muss die Ukraine warten?
Sowohl Bundeskanzler Scholz als auch Frankreichs Präsident Macron haben der Hoffnung der Ukraine auf einen schnellen EU-Beitritt erneut einen Dämpfer verpasst: Aus Fairness gegenüber anderen langjährigen Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan dürfe es keine Abkürzung in die EU geben, so Scholz. Macron hatte betont, das Verfahren könne „Jahrzehnte“ dauern. Europas Presse diskutiert Zwischenlösungen.
Italien – La Stampa – 23.05.2022
Viele Zweifler am Schnellverfahren
Da kommt eine neue Zerreißprobe auf die EU zu, prophezeit La Stampa:
„Auf der einen Seite stehen die Befürworter eines schnellen Beitritts – in erster Linie Polen und die baltischen Republiken – und auf der anderen Seite diejenigen, die der Meinung sind, dass die Beitrittsphasen ausnahmslos für alle gleich sein sollten. Frankreich hat es klar und deutlich gesagt, und Clément Beaune, der neue bestätigte Europaminister, bekräftigte dies gestern. Auch andere haben, wenn man sie gefragt hat, dies bezeugt – etwa die Niederlande und Dänemark. Gestern stellte sich zudem Deutschland offiziell auf die Seite Frankreichs. Macron versucht, seine westlichen Verbündeten zu beruhigen und gleichzeitig den dünnen Gesprächsfaden mit Putin nicht abreißen zu lassen.“
Rumänien – România Curată – 23.05.2022
Dringend benötigter Anker
Eine Beitrittseinladung sowohl an die Ukraine als auch die Republik Moldau und Georgien wäre jetzt angebracht, meint die Politologin Alina Mungiu-Pippidi in România Curată:
„Ich glaube, dass die EU mit dem Austausch von Fragebögen mit der Republik Moldau und der Ukraine (und Georgien) Zeit verliert. Selenskyj hat zwar nicht Recht, wenn er meint, dass wir wegen der russischen Lobby zögern würden, aber er hat Recht, dass eine sofortige Einladung das Einzige ist, was wir tun können. … Wir sollten alle drei in die EU einladen, so wie es einst mit Rumänien und Bulgarien geschehen ist, die damals von Nationalismus im eigenen Land bedroht waren. … Eine solche Einladung ist ein politischer und wirtschaftlicher Anker, ohne den man das Abdriften und die Panik nicht stoppen kann.“
Spanien – eldiario.es – 23.05.2022
Am besten Schritt für Schritt
Der Politiker Ramón Jáuregui plädiert in eldiario.es wie zuvor Macron für eine Art Vorzimmer der EU:
„Die Ukraine wird europäisch sein, oder sie wird aufhören, zu existieren. Der Beitrittsprozess wird sehr, sehr lange dauern. … Moldau und Georgien befinden sich im selben Prozess. … Europa muss die Zukunft dieser Länder im Blick behalten, denn es geht um seine nachbarschaftlichen Beziehungen und seinen geopolitischen Einfluss. Dies kann jedoch nicht um den Preis geschehen, dass wir unsere Ansprüche zurückschrauben. … Wir brauchen uns nur an die Schwierigkeiten zu erinnern, die durch die massive Integration der osteuropäischen Länder entstanden sind. … Aus all diesen Gründen ist es sinnvoll, an eine Europäische Politische Gemeinschaft zu denken, die die Länder schon im Beitrittsprozess integriert.“
Portugal – Observador – 23.05.2022
Potenzielle Kandidaten nicht demotivieren
Die EU sollte für sie wichtige Nicht-EU-Länder stärker fördern, fordert die Ökonomin und ehemalige Abgeordnete des portugiesischen Parlaments Inês Domingos in Observador:
„Angesichts der Dringlichkeit für die Ukraine ist es sinnvoll, die wirtschaftlichen Beziehungen und die institutionellen und finanziellen Unterstützungsprogramme in den Nachbarländern, die für die Europäische Union von strategischer Bedeutung sind, zu stärken. … Erstens, weil es angesichts der Gefahr zunehmender Konflikte im Osten aus Sicherheitsgründen eine Priorität ist, die schwächeren Demokratien in unserer Umgebung zu unterstützen. Aber auch, weil ein zu frühes Beitrittsverfahren die Gefahr birgt, die derzeitigen und potenziellen Kandidaten zu demotivieren, und das kann kontraproduktiv sein für die Reformen, die wir zu fördern versuchen.“
Von Annelene Adolphs, Europaverein GPB e.V.