Das Jahr 2022 bringt viele denk- und erinnerungswürdige Jahrestage für politisch Interessierte mit sich. Das EUROjournal pro management hat sich im Laufe der letzten Monate u.a. mit der 100. Wiederkehr einiger dieser markanten Wegmarken der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt. So bildete das Jahr 1922, in dem etwa der Gründer der bayerischen Sozialdemokratie, Ritter von Vollmar, starb, auf der einen Seite zwar zum Beispiel den Beginn der paneuropäischen Bewegung des Richard Coudenhove-Kalergi, während fast zeitgleich mit dem „Marsch auf Rom“ aber auch der Faschismus in Europa seinen kurzen, aber zeitgeschichtlich so nachhaltigen wie zerstörerischen Irrweg begann. Bernd Dieter RILL, der Vorsitzende unseres Redaktionskollegiums, renommierter Publizist und Historiker, hat sich in gewohnt profunder Weise auch mit diesem Kapitel der Geschichte auseinandergesetzt. Wer Zeit und Lust hat, in die moderne Geschichte tiefer einzutauchen, der sei – gerade in diesen Tagen – wärmstens auf die Lektüre der folgenden Abhandlung des ehemaligen Abteilungsleiters der Hanns-Seidel-Stiftung hingewiesen, die sich nicht nur mit dem „Marsch auf Rom“ selbst, sondern auch seiner vielsagenden Vorgeschichte beschäftigt, die in zahlreichen Aspekten auch auf die Geiselnahme des Staates in anderen europäischen Ländern übertragen werden kann. Wem Zeit und Muße jedoch fehlen sollten, dem möge das Urteil des Autors Bernd RILL nicht vorenthalten werden – vielleicht aber auch Interesse wecken, sich die „ganze Geschichte“ zu Gemüte zu führen. -wo-

„Den „Marsch auf Rom“ im wörtlichen Sinne der revolutionären Eroberung der Macht hat es nicht gegeben. Daran konnte auch die phantasiereiche faschistische Propaganda nichts ändern. Der eigentliche „Marsch auf Rom“ bestand in der Raffinesse, wie Mussolini mit dem Chaos drohte, um das Einladungs-Telegramm des Königs zu ertrotzen. Das allerdings gar nicht raffinierte Vabanque-Spiel bestand darin, dass Mussolini nicht genau einschätzen konnte, ob der König es sich auch wirklich abtrotzen lassen würde. Es war „brinkmanship“, von Erfolg gekrönt.“

„Marsch auf Rom“ – Die Faschisten kommen an die Macht

Am 30. Oktober 1922 beauftragte König Viktor Emanuel III. von Italien in seiner Eigenschaft als konstitutioneller Monarch Benito Mussolini, den Vorsitzenden des „Partito Nazionale Fascista“ (PNF) mit der Bildung einer Regierung, deren Ministerpräsident (Presidente del Consiglio) dieser dann sein würde. Dazu schrieb Harry Graf Kessler, hochgebildeter Kunstliebhaber, Gesprächspartner vieler prominenter Persönlichkeiten und scharfer politischer Beobachter, in seinem voluminösen Tagebuch: „Die Faschisten haben durch einen Staatsstreich die Gewalt an sich gerissen in Italien. Wenn sie sie behalten, so ist das ein geschichtliches Ereignis, das nicht bloß für Italien, sondern auch für ganz Europa unabsehbare Folgen haben kann. Der erste Zug im siegreichen Vormarsch der Gegenrevolution… Hier kommt ganz offen eine anti-demokratische, imperialistische Regierungsform wieder zur Macht. In einem gewissen Sinne kann man Mussolinis Staatsstreich mit dem Lenins im Oktober 1917 vergleichen, natürlich als Gegenbild.“

Das wichtigste Reizwort in diesen Sätzen: „Faschisten“. Es hat unter den Linken das Ende des italienischen Faschismus (seit 1945 regiert er nicht mehr) prächtig überstanden und ist zu einer inflationären Totschlags-Vokabel geworden, die auch außerhalb linker Kreise einen gewissen Ehrenplatz errungen hat. Wie ist dieser Faschismus aufgekommen und so stark geworden, dass er sich in einem differenzierten, pluralistischen und liberalistischen Staat wie dem damaligen Königreich Italien etablieren konnte?

Viktor Emanuel III., König von Italien aus dem Haus Savoyen von 1900 bis 1946 (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Die Bezeichnung „Faschismus“

„Fasci“ sind Bündel von, sagen wir einmal, Holzstäben, die zusammengebunden werden und sich so dazu eignen, als Sinnbild gesammelter Kraft zu gelten, denn den einzelnen Stab kann man brechen, das feste Bündel aber nicht mehr so ohne weiteres. Eine besondere historische Aura haben die Rutenbündel dadurch erworben, dass sie mit der oben herausschauenden Klinge eines Beiles verbunden wurden und so schon bei den alten Etruskern vorkamen, getragen in den Händen von Amtsdienern, die einem Magistrat voranschritten, zum Zeichen dessen, dass er in dem geordneten Staatswesen etwas zu entscheiden hatte. Das imponierte den alten Römern, daher übernahmen sie es. Da sie zusammen mit den alten Griechen zu den Vätern der europäischen Kultur avancierten, und da die Republikaner der Französischen Revolution in der antiken römischen Republik ihr erhabenes Vorbild verehrten, verwendeten auch sie das Rutenbündel, nun als Zeichen ihrer Gesinnung, nicht anders als phrygische Mütze und blau-weiß-rote Trikolore. Diese Bündel mit Beil waren  gemäß ihrer antiken Herkunft Ausdruck einer legitimen, rechtlich gebundenen Amts-Macht.

Im neuzeitlichen Italien bekamen die „fasci“ jedoch einen weiter gespannten, allgemein-politisch zu verstehenden Sinn.

Sizilien war 1861 Teil des neugeschaffenen Königreichs Italien geworden, dessen König ein Piemontese aus dem Fürstenhaus Savoyen war. Die Segnungen, die die nationale Einheit mit sich brachte, gingen indessen an Sizilien größtenteils vorbei. Die Ärmeren begannen, an die Sozialisierung des Grundeigentums zu denken, weil sie sich von den aristokratischen Latifundisten ausgebeutet, ungerecht behandelt und vernachlässigt fühlten. Die Löhne stagnierten, die staatliche Sozialpolitik war unterentwickelt. Zusammen mit anderen Unzufriedenheiten führte das zur Gründung von lokalen und regionalen „fasci“, an denen auch Akademiker und Intellektuelle teilnahmen, zu einer Art Vorstufe von Gewerkschaften. Es kam zu Ausschreitungen und Gewalttaten, sogar Priester schlossen sich den „fasci“ an, rote Fahnen wurden geschwenkt, denn die Ideologie des Sozialismus begann, auch auf Sizilien Fuß zu fassen.

Rom war derart aufgeschreckt, dass es über die Insel den Ausnahmezustand verhängte und 30 000 Soldaten, sogar Flotteneinheiten schickte. Alle „fasci“ wurden verboten, es kam zu standrechtlichen Erschießungen und massenweisen Straf-Verbannungen, im Januar/Februar 1894 siegte die repressive Staatsmacht.

Mussolini, der Star der Sozialisten

Die Sozialisten überall in Italien hielten dies in hasserfüllter Erinnerung. Einer der Revolution und Gewalt predigenden Sozialisten (es gab auch kompromisslerische, „revisionistische“) war der 1883 geborene Benito Amilcare Andrea Mussolini aus Predappio in der Romagna. Er trat beängstigend dynamisch auf und riss als zündender Volksredner sein sozialistisches Publikum hin, benahm sich häufig und gezielt daneben und bramarbasierte unflätig, denn ein Revolutionär durfte an die bestehende Gesellschaft nicht angepasst sein. Theoretiker war er deutlich weniger. Er nahm aus seiner Lektüre von Karl Marx zwar die Forderung nach Klassenkampf auf, aber die von Marx prophezeite historische Entwicklung hin zur Revolution und zur Diktatur des Proletariats wollte er durch beherzten Einsatz von Gewalt möglichst beschleunigen. Man hat den Eindruck: die Gewalt war für ihn die Hauptsache, denn das entsprach seiner dynamischen und auch rücksichtslos auftrumpfenden Persönlichkeit. Halbwegs kooperativ war er nur, wenn er es für unbedingt erforderlich hielt, denn er hatte nicht nur demagogischen Sinn dafür, was die Leute hören wollten, sondern auch ein hoch entwickeltes taktisches Gespür. Da er als Journalist packend formulieren konnte, vertraute ihm die Partei die Leitung ihrer Agitations-Zeitung „Avanti“ an, was zu einer guten Steigerung der Auflage führte.

Er schien eine glänzende Zukunft als Führer der Sozialisten zu haben – doch da brach der Erste Weltkrieg aus, und seine Partei entdeckte ihre pazifistische Ader. Sozialismus wurde als Internationalismus der gesamten Arbeiterklasse verstanden, man durfte sich nicht zum Krieg der Kapitalisten untereinander hergeben, die ihre wirtschaftlichen Interessen mit dem Mäntelchen des Patriotismus umkleideten, damit sich die unterprivilegierten Massen der Arbeiterschaft von ihnen zur Schlachtbank führen ließen. Also hatte Italien im Kriege neutral zu bleiben.

„Avanti!“, der italienische „Vorwärts“ als Parteiorgan der Sozialisten setzte Chefredakteur Mussolini 1915 vor die Tür, weil dieser entgegen der Parteidoktrin für den Kriegseintritt Italiens an der Seite der Alliierten gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn eintrat (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Aus gänzlich anderen Gründen lehnten aber auch die anderen politischen Strömungen größerer Bedeutung in Italien einen Kriegseintritt mehrheitlich ab: die konservativ-bürgerlichen, die päpstlich-klerikal gesonnenen, die Liberalen. Das Parlament in seiner überwältigenden Mehrheit war neutralistisch gestimmt. König Viktor Emanuel III., auch er eine Autorität, denn er war Oberbefehlshaber der Armee, deren monarchistischer Loyalität er sicher sein konnte, sagte vorsichtshalber gar nichts, wie es seine übliche Art war, wenn es um brennende Fragen der Nation ging.

Wandlung des Sozialisten zum Prediger des Krieges

Mussolini aber ließ sich den „Avanti“ wegnehmen, sogar aus der Partei hinauswerfen, denn im Herbst 1914 entdeckte er seinen glühenden Nationalismus und forderte, so laut er konnte, den Kriegseintritt Italiens. Wieso diese radikale Kehrtwende?

Er hatte registriert, dass der Kriegsausbruch keineswegs einen Aufstand der „Proletarier aller Länder“ ausgelöst hatte, weshalb er zu diesem auch nicht aufrief, sondern zunächst nur passiven Widerstand befürwortete, und sich weigerte, Soldaten an den Fronten zur Fahnenflucht aufzurufen. Ihm war auch klar geworden, dass die Sozialisten trotz ihres hohen Organisationsgrades und ihrer Bereitschaft zu massenhaftem Streik und zur Gewaltanwendung zu schwach waren, um die Macht in Italien zu erobern.

Dann aber überlegte er, ob die erhoffte soziale Revolution nicht aus den gesellschaftlichen Erschütterungen würde hervorgehen können, die der Krieg mit seinen ungeheuren, noch nie dagewesenen Anstrengungen in den teilnehmenden Staaten nach sich ziehen müsste. Denn es war abzusehen, dass er länger als ursprünglich angenommen dauern würde, nachdem der deutsche Angriff auf Frankreich im September 1914 durch das „Wunder an der Marne“ (so die Formulierung der Franzosen) zum Stehen gekommen war. Mussolini sagte, es sei „allein das Blut, das die Mühlen der Geschichte antreibt“. Demnach wäre der Krieg ein heilsames Blutbad der nationalen Läuterung.

So war ein Bindeglied zwischen kämpferischem Sozialismus und Nationalismus gefunden. Am 15. November 1914 gründete Mussolini die Zeitung „Popolo d’Italia“, die sich zu einer wirksamen Konkurrenz gegen den „Avanti“ auswuchs. Dafür bekam er Geld von italienischen Großindustriellen und auch aus Frankreich. Aber er war nicht einfach ein korrupter Opportunist, er hatte wirklich seine nationale Begeisterung entdeckt. Am 15. Dezember 1914 war er Mitbegründer der „Fasci di Azione Rivoluzionaria“, einer Dachorganisation für die „Interventionisten“, in den Krieg nämlich.

Der Krieg war wünschenswert an der Seite der Westmächte gegen Deutschland und Österreich-Ungarn, denn, so Mussolini, es gehe „um die Befreiung der unerlösten (irredenti) Völker des Trentino und Istriens“, also der dort wohnenden Italiener. Aber ganz Südtirol bis zum Brenner sollte gewonnen werden. Das war rund um Bozen und Meran zwar deutsches Land, doch gab es die eher mystisch als strategisch zu nennende Idee, dass die gesamte Osthälfte der Alpen beherrsche, wer auf dem Scheitelpunkt des Brenner-Passes stehe. Und um ein Vorfeld für die Verteidigung der oberitalienischen Tiefebene zu bekommen, hätte auch die Salurner Klause als Nordgrenze genügt. Triest stand ebenfalls auf der Wunschliste, und Mussolini forderte auch noch die dalmatinischen Inseln mit einem Streifen landeinwärts. Der war zwar überwiegend von Slawen besiedelt, aber der strategische Grundgedanke leuchtete eher ein als im Falle des Brenner-Passes: es ging um die Kontrolle der Adria, des Gegenufers der italienischen Halbinsel.

Solche Forderungen ließen sich noch ableiten aus dem „Irredenta“-Gedanken, der die patriotischen Italiener umtrieb, spätestens, nachdem sie die Österreicher aus Venetien verdrängt hatten (1866), nur noch angereichert durch Deutsch-Südtirol und die Expansion in Dalmatien. Der Erfolg dieses Ausgreifens galt als „Vollendung des Risorgimento“, der großen italienischen Einigungsbewegung des 19. Jahrhunderts.

Doch wir geraten von dieser zwar aggressiven, aber traditionellen Denkweise in den Vorhof des Faschismus, wenn wir bemerken, wie der Ausdruck „Risorgimento“ überhöht wurde, über die Schaffung der nationalen Einheit hinaus, in die Perspektive eines rundum glücklichen, sich der fortschrittlichen Zukunft im Rahmen der europäischen Zivilisation bemächtigenden Volkes. „Rorgimento“ hat „risorgere“ in sich, auferstehen, eine religiös aufgeladene Vokabel, denn Christi Auferstehung war die „risurrezione“. Die Vokabel passte also gut zur neuen, säkularen Religion des Nationalstaates, der zu höheren Zielen führen sollte. In dieser Vorstellung schlummerte einer der Keime des Faschismus.

Das enttäuschende Königreich

Und eben diesen Aufschwung, so die Kritiker, habe das neu geschaffene Königreich nicht zuwege gebracht, es sei vielmehr im bourgeoisen Alltag und dem gehässigen Klein-Klein der Parteien des Parlaments stagniert. Dieses römische Parlament war noch weit entfernt davon, seiner idealen Aufgabe zu entsprechen, das mündige Volk in seiner Gesamtheit zu repräsentieren und ihm die gebührende Teilhabe an der politischen Macht zu garantieren. Das Wahlrecht war erst extrem eingeschränkt, wurde dann allmählich ausgedehnt, von den 1914 gezählten 35 Millionen Italienern waren die Frauen sowieso ausgeschlossen, und von den Männern durfte auch nach der Wahlrechtsreform von 1912 nur etwa die Hälfte zu den Urnen gehen. Die Abgeordneten entstammten überwiegend einer Schicht der jeweiligen lokalen Einflussträger, die teils nach uralter Tradition der landbesitzenden Aristokratie entstammten, teils dem arrivierten Großbürgertum, und die eine Klientel um sich scharten. Die Wähler wurden bestochen, falls erforderlich auch eingeschüchtert, im Mezzogiorno sorgten kriminelle Organisationen dafür, dass der Stimmenkauf blühte.

Die siegreichen Piemontesen hatten dem ganzen Land eine zentralisierte Verwaltung aufgezwungen. Das widersprach fundamental den letzten 1250 Jahren der italienischen Geschichte, in der die Halbinsel beständig in einzelne Herrschaftsbereiche aufgeteilt gewesen war. Da hatten sich entsprechende politische Netz- und Einflusswerke eingewurzelt. Die verschwanden keineswegs über Nacht, und noch heute spielen sie eine Rolle. Das neue Königreich war überhaupt nicht homogen, trotz Zentralverwaltung.

Italien war ein zutiefst katholisches Land, mit nicht zu vernachlässigendem Einfluss der Pfarrer und Bischöfe auf die Gläubigen, und mit dem Papst, der seit 1523 stets aus Italien stammte, als undiskutierbarem Stellvertreter Christi auf Erden. Diesem hatte das „Risorgimento“ seinen Kirchenstaat weggenommen, daher verboten die derart geschädigten Päpste Pius IX. (1846-1878) und Leo XIII. (1878-1903) den Gläubigen das Engagement für das gottlose – und tatsächlich freimaurerisch durchwachsene – Königreich. Die Folgen für die Formung eines breiten politischen Bewusstseins mussten beträchtlich sein.

Die Leute an der Macht spielten sich und ihren parlamentarischen Gegnern die Pöstchen zu und verstanden sich auf die feine Kunst des „trasformismo“, der dazu führte, dass jahrzehntelang immer dieselben Gesichter als Ministerpräsidenten, Minister und Staatssekretäre auftauchten. Übrigens lief es nach 1945 in der „Democrazia Cristiana“ nicht viel anders, weshalb die häufigen Regierungswechsel nicht viel darüber aussagten, wie es mit der politischen Stabilität des Landes wirklich stand.

Außenpolitisch war die Bilanz des Königreichs nicht berückend. Zwar kam es zur Erwerbung von Eritrea und dem Küstenstreifen „Italienisch Somaliland“, 1911/12 mit Ach und Krach die Eroberung Libyens, zumindest der Küste, zwischen dem französischen Tunesien und dem britisch dominierten Ägypten. Dabei auch Festsetzung auf der Inselgruppe des Dodekanes (mit Rhodos) in der Ägäis. Ganz Äthiopien hätte eingesackt werden sollen, nicht nur Eritrea. Doch der Zugriff auf das zentrale Hochland führte nur zur Niederlage von Adua (1896). Das war eine Schande, wie sie die anderen Kolonialmächte niemals hinnehmen mussten.

Die verlorene Schlacht von Adua im Jahre 1896 bildete einen schweren Rückschlag für die Kolonialbemühungen des Königreichs Italiens mit weitreichender Wirkung (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Und das, als ab den 1880-er Jahren die Europäer in der Hochphase des Imperialismus in Asien und Afrika Herrschaftsgebiete an sich rissen, so viel sie nur konnten. Wer nichts dazugewann, der musste ins zweite oder dritte Glied der Mächte zurücktreten, das war die Überzeugung des in Blüte stehenden „Sozial-Darwinismus“.

Expansionsbedürfnisse

Der Nationalist Enrico Corradini kreierte die Idee, den sozialistischen Klassenkampf in die Welt der Staaten zu übertragen, wobei hauptsächlich Briten und Franzosen die „Bourgeoisie“ abgaben, Italien aber die „proletarische“ Nation war. Die Armut der Bevölkerung, besonders südlich von Rom, führte zu millionenfacher Auswanderung in die USA und nach Südamerika. Das war ein sozialer und ökonomischer Skandal, dessen die Regierenden in Rom nicht Herr wurden. Wieviel besser, diese abgehängten Millionen als Kolonisatoren in die italienischen Besitzungen nach Übersee zu schicken! Wegen der Wünschbarkeit dieses Zieles sah Corradini über die Ernsthaftigkeit der Frage hinweg, ob die Kolonien denn ertragreich genug sein konnten, eine Masse von landhungrigen Siedlern aufzunehmen. Es war nun aber eine Illusion von expansiver Größe in die Welt gesetzt.

Die Nation sollte zur Entfaltung ihrer Kraft in der Arena des internationalen Sozial-Darwinismus den internen Klassenkampf vergessen und sich zu straff geführter Einheit verbinden. Das war anti-liberal, anti-demokratisch, anti-parlamentarisch gedacht, und bereitete auf solche Weise ebenfalls dem späteren Faschismus den Boden.

Schon machte auch das Schlagwort vom Mittelmeer als dem „Mare Nostrum“ die Runde, wie es einst die Vorfahren aus dem alten Rom beherrscht hatten. Darüber hinaus: Italien war im Mittelmeer quasi eingesperrt. Um eine ernstzunehmende Großmacht zu werden, musste es aus dieser Beschränkung ausbrechen, mit dem Traumziel Ostafrika (siehe aber oben: Adua 1896!).

So maßen die Italiener ihre aktuell eher unbefriedigende Situation an der einstigen Größe des römischen Reiches, mehr noch: an ihrer kulturgeschichtlich nun wirklich großartigen Vergangenheit in Mittelalter, Renaissance und Barockzeit, als sie den anderen Europäern geistige und künstlerische Maßstäbe gesetzt hatten (um es in der gebotenen Kürze zu sagen). Es gilt auch im Bereich des Individuums, dass es eine unerträgliche Last sein kann, als Erbe eines großen Namens auftreten zu müssen.

Futurismus – oder: Bedürfnis nach Umbruch

Nun dagegen aber die durch und durch materialistische, harte Machtpolitik betreibende Gegenwart! Da schien ein radikaler Bruch vonnöten, so radikal, dass der kleinherzig-liberale „trasformismo“, mit Massen-Emigration und mit nur zögerlicher Industrialisierung, die noch dazu durch den von den Sozialisten erzwungenen Arbeitskampf behindert wurde, ihn niemals bewerkstelligen konnte. Am besten also, das schwache Regime mit seiner beständigen Kompromisslerei würde durch ein kraftvolleres ersetzt, auch wenn die einschlägig Interessierten, und Mussolini nicht anders, über dessen genauere Züge noch nicht Bescheid wussten.

So dachten auch viele Nicht-Politiker, Intellektuelle und Künstler, was zu der Atmosphäre, in der der Faschismus nach dem Ersten Weltkrieg gedieh, wesentlich beitrug. 1909 veröffentlichte der Literat Filippo Tommaso Marinetti seine Kampfansage an das aktuelle Italien in Form eines provokant formulierten „Manifesto del Futurismo“. Es lohnt sich für unser Thema, manche von dessen programmatischen Punkten genau anzusehen.

„1. Wir wollen besingen die Liebe zur Gefahr, und die Gewohnheit, energisch und tollkühn zu sein“. Das enthielt den faschistischen Slogan „Vivere pericolosamente“ (gefährlich leben), der aus einem bei Nietzsche zu lesenden Postulat abgeleitet war. „2. Mut, Kühnheit, Rebellion, das werden die wesentlichen Elemente unserer Poesie sein“. Das orientierte sich an Vittorio Alfieri (1749-1803), einem Freiheitsdichter gegen die Tyrannen, der durch das „Risorgimento“ in Italien zu besonderem Ruhm kam, weil er der dynamischen Mentalität gefiel, die die Vorbedingung umstürzlerischer Aktivität war.

Nr.3: „Die Literatur hat bis jetzt gedankenvolle Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf verherrlicht. Wir aber wollen verherrlichen die aggressive Bewegung, die fieberhafte Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag“. Das war, über die Ablehnung der bisherigen Literatur hinaus, eine Hochpreisung von Gewalt, und das um ihrer selbst willen. Denn wozu diese Gewalt führen sollte, über den augenblicklichen Elan hinaus, bleibt völlig ungewiss.

Nr. 4: „Wir behaupten, dass die großartige Welt um eine Schönheit reicher geworden ist, die Schnelligkeit. Ein Rennwagen, dessen Motorhaube mit dicken Röhren geschmückt ist, die Schlangen mit explosivem Atem ähneln…..ein brüllendes Auto, das zu laufen scheint wie ein Maschinengewehr, ist schöner als die Nike von Samothrake“. Nr.7: „Nur im Kampf besteht Schönheit. Kein Werk, das keinen aggressiven Charakter hat, kann ein Meisterwerk sein“.

Drei weitere Punkte dürfen wir dem Leser nicht ersparen, wegen ihrer Grundsätzlichkeit. Nr.8: „Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte. Warum sollten wir hinter uns sehen, wenn wir die geheimnisvollen Pforten des Unmöglichen aufstoßen wollen? Zeit und Raum, die sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit geschaffen“. Nr.9, besonders klar:  „Wir wollen den Krieg verherrlichen – die einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, das zerstörerische Handeln der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, sowie die Verachtung der Frau“. Schließlich Nr. 10: „Wir wollen zerstören die Museen, die Bibliotheken, die Akademien jeglicher Art, und wir wollen kämpfen gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jegliche opportunistische oder utilitaristische Erbärmlichkeit“.

Das ist nur eine kleine Auswahl aus dem reichlich aufgekratzten Text des „Manifesto per il Futurismo“. Wohlwollend betrachtet, kündet es von der Not der italienischen Schöngeister, sich von all ihren erdrückenden Übervätern seit Dante über Michelangelo und Alessandro Manzoni zu befreien und für die neue Technik-, Industrie- und Massenwelt neue künstlerische Ausdrucksformen zu finden. Aber es steckt auch schlechthin der Aufruf zu Krieg und Gewalt darin, der ernsthaft gemeint ist, nicht nur als eine literarische Provokation oder „Publikumsbeschimpfung“. Marinetti unterbrach im September 1914 die Aufführung von Puccinis „La Fanciulla del West“ in einem römischen Opernhaus, holte die Fahne der Habsburger-Monarchie hervor und verbrannte sie unter Hallo auf der Bühne. Marinetti erklärte, für die Futuristen sei der Krieg die einzige Quelle künstlerischer Inspiration. Pietro Nenni, erst Liberaler, dann Faschist, schließlich Sozialist und vielbeschäftigter Politiker in der italienischen Nachkriegs-Republik, nannte die Neutralität ein erniedrigendes Symptom staatlicher Impotenz. Und, da das Manifest der Frauen gedenkt, wenn auch in abschätziger Weise, mag ergänzend auch noch ein Wort Mussolinis von 1934 zitiert werden: „Dem Manne steht der Krieg wohl an, wie die Mutterschaft der Frau“.

Das alles, in letzter Erhöhung, vor einem quasi chiliastischen Hintergrund: „Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte“. Das soll doch wohl heißen: Mit uns bricht eine völlig neue Zeit an.

Der unendlich hochfliegende Idealismus bedeutet die Abkehr von der etablierten bürgerlichen Ordnung, mit all ihrer Langeweile, wie es enthusiastische Geister empfinden. Das ist kein speziell italienisches Phänomen in der damaligen Zeit, aber wir haben uns vorgenommen, im wesentlichen nur von Italien zu erzählen. Daher soll kein ausgedehnter Vergleich mit der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland angestellt werden, denn über die gibt es in deutscher Sprache schon genug zu lesen, über den italienischen Faschismus deutlich weniger. Nur zwei Parallel-Zitate aus dem NS-Bereich zu diesem Manifest: das SA-Lied: „Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt….“, sowie Joseph Goebbels, frei nach Hanns Johst, dem Präsidenten der „Reichsschrifttumskammer“: „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver“.

Zwei Agitatoren zum Krieg

Es ist bekannt, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Deutschland vielfach ganz als „Hygiene“ für die erstarrte Gesellschaft im Sinne von Marinettis Manifest begrüßt worden ist (was nicht heißen muss, dass die derart enthusiasmierten Deutschen gerade dieses Manifest gelesen hatten). Schon bald aber zeigte der Krieg sein Antlitz von ganz neuartiger Grauenhaftigkeit, überhaupt nicht mehr nach fröhlich-heldenhafter alter Art, wie man ihn sich leichtfertig vorgestellt hatte.

Aber das focht den zum Kriegs-Agitator gewordenen Mussolini nicht an. Auch nicht den Poeten Gabriele D’Annunzio, der bereits einen verdienten Ehrenplatz in der italienischen Literaturgeschichte errungen hatte, der aber nunmehr seine Sprachgewalt geradezu hektisch für den Kriegseintritt Italiens einsetzte. Das war für ihn eine nicht geringere Kehrtwende, als Mussolini sie durchlebte, denn der literarische Ruhm D’Annunzios beruhte auf Werken, die man dem um 1900 schwärmenden „Dekadentismus“ zuordnen konnte. Schwüle Erotik in luxuriöser Atmosphäre mit genialischen Männlein und Weiblein, die von ihren Leidenschaften zerfetzt werden, so ging es in D’Annunzios Romanen zu. Seine Lyrik, wohl seine überragende Leistung, war innovativ und wurde immer patriotischer. Wer ihn nicht mochte, schrieb seine Agitation dem Umstand zu, dass ihm poetisch nichts mehr einfiel.

Der 5. Mai war im Kult des „Risorgimento“ ein wesentliches Datum, denn am 5. Mai 1860 war der famose Freischärler Giuseppe Garibaldi mit etwa 1000 Freiwilligen (den „Mille“) vom Hafen Quarto nahe Genua aufgebrochen, um dem König von Piemont-Sardinien den „Mezzogiorno“ zu erobern – was ihm auch gelang. In Quarto nun hielt D’Annunzio am 5. Mai 1915 eine Volksrede, die es in sich hatte: „Ihr wollt ein größeres Italien, nicht durch Erwerb, sondern durch Eroberung (Wortspiel: non per acquisto, ma per conquisto), nicht nach dem Maß der Schande (also nicht, indem man sich von Österreich-Ungarn eine „terra irredenta“ schenken lässt, um einen Vorwand zu haben, dem Krieg fern zu bleiben), sondern um den Preis von Blut und Ruhm….Hier in unserer langen Armseligkeit wollte unser Gott (Nation = Gott, Religionsersatz!) uns ein so großes Zeugnis unseres privilegierten Blutes (der herrschaftsberechtigten „razza latina“!) geben“.

Dann nimmt D’Annunzio Anleihen bei der Bergpredigt des Matthäus-Evangeliums auf – das muss einem erst einmal einfallen! „O selig, die mehr geben, denn mehr werden sie geben können, und mehr werden sie brennen können….Selig die jungen Menschen, die nach Ruhm hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden!“ Die Bergpredigt Christi richtet sich an die Demütigen und Friedfertigen, hier wurde ihr Sinn ins exakte Gegenteil umgemünzt. Man muss zugeben: das ist zwar Hetze, aber literarisch interessant.

Eine Woche später schmetterte er in Rom, auf dem kapitolinischen Hügel, dem sakralen Zentrum der antiken römischen Welteroberer: „Gefährten, es ist nicht mehr Zeit, um zu reden, sondern um zu handeln. Wenn es als ein Verbrechen gilt, die Bürger zur Gewalttätigkeit aufzurufen, dann will ich mich dieses Verbrechens rühmen, und ich werde es allein auf mich nehmen“.

Wir lassen D’Annunzio so ausgiebig zu Wort kommen, weil er als Volkstribun der Ultra-Nationalisten auch noch kurz nach dem Krieg ein Ansehen genoss, das ihn zum ernsthaften Konkurrenten Mussolinis um die Führerschaft in diesen Kreisen machte. Dabei müssen wir nicht in den Fehler verfallen, seine fulminanten rhetorischen Auftritte als ursächlich für die italienische Kriegserklärung an Österreich-Ungarn (23. Mai 1915) überzubewerten. Er hätte sich nicht in Quarto und auf dem Kapitol tummeln können, wenn der Kriegseintritt gewissermaßen nicht schon in der Luft gelegen hätte, herbeigeführt von der Regierung selbst.

Wie man sich in einen Weltkrieg hineinschwindelt

Deren Spiel war dabei so trickreich, dass der Gedanke aufkam, es habe Mussolini zu seiner Taktik angeregt, die 1922 zum „Marsch auf Rom“ führte. Denn er hatte im Frühjahr 1915 miterlebt, wie eine entschlossene Minderheit die Massen in die gewünschte Richtung drängen konnte. Die Regierung, die den Krieg wollte, hatte schon lange gelernt, wie man Demonstrationen der Massen hervorrufen und steuern konnte; das kam auch D’Annunzio bei seinen spektakulären Auftritten zugute. Einige Minister wiesen den Ministerpräsidenten Salandra darauf hin, dass der Krieg von der großen Mehrheit im Parlament und auch in der Bevölkerung abgelehnt werde. Aber während Salandra noch mit Wien verhandelte, ob er etwa als Gegenleistung für Italiens Verharren in der Neutralität das Trentino abgetreten bekommen könnte, sowie Triest als „Freie Stadt“, knüpften er und sein Außenminister auch schon mit Briten und Franzosen an. Dem Parlament und auch Giovanni Giolitti, dem großen alten Mann der Liberalen, dem noch die Mehrheit im Parlament anhing, erzählten sie vorsichtshalber gar nichts, auch nicht den anderen Ministern und den Militärs. Die Westmächte boten mehr als die Wiener, also kam es am 26. April 1915 mit den ersteren zum Bündnisvertrag.

Abstimmung in der Italienischen Nationalversammlung zum Kriegseintritt in den Ersten Weltkrieg 1915, wie sie der Zeichner Ambrogio Lombardi (1887-1934) sah (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Giolitti meinte: auch ein siegreicher Krieg werde wegen seiner schweren gesellschaftlichen Belastungen zu einer Revolution in Italien führen. Aber er verzichtete darauf, eine neue Regierung zu bilden, gestützt auf die parlamentarischen Anhänger fortbestehender Neutralität. Denn er hatte erfahren, dass der König für den Kriegseintritt votierte. Letztlich gab also das den Ausschlag.

Viktor Emanuel III. war, wie alle piemontesischen Prinzen, in militärischem Drill erzogen worden. Sein Großvater, der zweite dieses Namens, war in den Kriegen des „Risorgimento“ eifrig mitgeritten, denn er huldigte der Auffassung, dass der Altar des Vaterlandes mit Blut geweiht werden musste. Das klingt archaisch und brutal, hat aber etwas für sich: so ist die deutsche Einheit durch den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ganz wesentlich herbeigeführt worden. Staatsmännische Weisheiten verlieren nichts von ihrer Wahrheit dadurch, dass sie unappetitlich wirken. Im italienischen Fall krankte die Weihe des Altares des Vaterlandes bis 1915 noch daran, dass die nationale Einheit ohne die massive Hilfe der französischen Armee Kaiser Napoleons III. nicht möglich gewesen wäre, ferner daran, dass die Kriege um die Einheit ihre Höhepunkte jeweils in italienischen Niederlagen gehabt hatten.

Für die Westmächte sprach von Anfang an, dass ein deutsch-österreichischer Sieg mit anschließender deutscher Hegemonie in Europa Italien überhaupt nichts eingebracht, vielmehr zu dessen Marginalisierung auf dem Kontinent geführt hätte. Bei einem Sieg der Briten, Franzosen und Russen hingegen hätte sich ein gewisser Pluralismus in Europa ergeben, der Italien günstiger wäre. Der konstitutionell gefesselte König fürchtete beständig um seinen Thron, deswegen war er an italienischen Siegen interessiert und segnete daher den Vertrag mit den Westmächten ab. Da dieser territoriale Veränderungen vorsah, musste er aber vom Parlament ratifiziert werden – und wenn der konstitutionelle und kriegsgeneigte König sich der bekannt friedensgeneigten Giolitti-Mehrheit des Parlamentes widersetzte, dann war eine Verfassungskrise zu erwarten, die zum Sturz der Dynastie ausarten konnte. Mussolini tönte schon: „Entweder der Krieg oder die Republik!“ Aber, wie wir schon gelesen haben, Giolitti wollte den König nicht in solche Nöte bringen, und da er sich zurückzog, stimmte das führerlos gewordene Parlament dann doch für den Kriegseintritt.

Wir halten für das noch Folgende fest: der König schloss sich aus Sorge um seinen Thron der aggressiveren Richtung an. Das war für den Mai 1915 und dann auch für den Erfolg des „Marsches auf Rom“ ein wesentlicher Faktor.

Mussolini während des Krieges

Dann kam der Krieg mit 630 000 Toten auf italienischer Seite und 450 000 Kriegskrüppeln. Die Mitglieder der „Fasci di Azione Rivoluzionaria“ hatten sich schon zu Beginn freiwillig gemeldet, Mussolini ließ sich erst im September 1915 von den Musterungsbehörden einziehen. Vom professionellen Militär verstand er wohl nicht viel, denn er setzte auf einen leichten Sieg, während das blutige und lange vergebliche Anrennen der Italiener auf die österreichische Verteidigung am Isonzo offenbarte, was schon Giolitti gewusst hatte: dass die Armee mangelhaft ausgerüstet und viel zu phantasielos geführt war.

Mussolini brachte es zum Obergefreiten (wie Adolf Hitler, aber ohne dessen Eisernes Kreuz), bis zum Februar 1917, da er Unteroffizier wurde. Ein Drückeberger war er nicht, auch wenn spätere speichelleckerische Legenden seine Tapferkeit übertrieben. Im selben Februar 1917 wurde er während einer Übung durch die Explosion eines Granatwerfers so verletzt, dass er den Kriegsdienst quittieren musste und nach der Genesung zu seiner Zeitung „Popolo d’Italia“ zurückkehrte.

Er schrieb wieder Brandartikel, deren Tendenz ihren Schwerpunkt in einem Hyper-Patriotismus hatte. Erst begrüßte er das 14-Punkte-Programm des US-Präsidenten Wilson vom 8. Januar 1918, weil es das Selbstbestimmungsrecht der Völker einforderte. Dann aber besann er sich wieder darauf, dass Deutsch-Südtirol und Teile des slawischen Dalmatiens italienisch werden mussten, forderte die gesamte Adria und auch noch das gesamte Mittelmeer als italienische Hoheitsgewässer. Auch beträchtliche koloniale Vergrößerungen seien fällig.

Nach dem Kriegseintritt der USA (April 1917) sah er die Niederlage der Mittelmächte voraus. Ergaben dann die Friedensverhandlungen weniger als solche Maximal-Ziele, dann war der propagandistische Weg frei, den „verstümmelten Sieg“ (vittoria mutilata) zu denunzieren. Das würde besonders die millionenfach abgedankten Soldaten der Nachkriegszeit mit agitatorisch auswertbaren Ressentiments erfüllen, denn eine „vittoria mutilata“ hätte bedeutet, dass all ihre Mühen und Gefahren an der Front zu wenig eingebracht hatten. Im Hinblick auf dieses zukünftige Arsenal von Anhängern kam der Ausdruck „trincerocrazia“ auf, frei zu übersetzen etwa mit „die Herrschaft der im Schützengraben zusammengeschweißten Gemeinschaft“.

Nach dem Sieg von Vittorio Veneto (Oktober 1918), der die Donaumonarchie zum Waffenstillstand zwang (ihr endgültiger Untergang folgte wenige Tage später) war Mussolini überzeugt, dass eigentlich Italiens Eintritt in den Krieg diesen zugunsten der Westmächte entschieden hatte. Obwohl der Einsatz durchaus kräftig gewesen war, stimmte das militärisch nicht, aber es war tauglich zur Aufrechterhaltung einer national überheizten Stimmung.

Mailand, Piazza San Sepolcro

Doch ging die Siegermacht Italien aus dem Krieg mit massiven inneren Problemen hervor, fast als ob sie zu den Verlierern gehörte. Lebensmittel und Rohstoffe wurden knapp, die Industrie hatte größte Schwierigkeiten, von Kriegs- auf Friedensproduktion zurückzuschalten, die Inflation galoppierte, und da 2,5 Millionen Soldaten ins zivile Leben zurückströmten, stieg die Arbeitslosigkeit gewaltig an.

Wer in diesem Chaos geschickt und brutal genug agierte, der durfte auf politische Dividenden hoffen. Der Parlamentarismus war zum Scheitern verurteilt, so Mussolinis Überzeugung, denn dem aktuellen Chaos standen die behutsamen Klientel-Politiker mit all ihrem in ruhigeren Zeiten kultivierten „trasformismo“ hilflos gegenüber.

So treten wir in die eigentliche Geschichte des Faschismus ein mit der Umwandlung der „Fasci di Azione Rivoluzionaria“ in die „Fasci di Combattimento“. Die wurde verkündet am 23. März 1919 im Versammlungssaal, den die „Associazione degli Industriali Lombardi“, ein Zusammenschluss von Mailänder Arbeitgebern, an der Piazza San Sepolcro, nicht weit vom Platz des großartigen Domes entfernt, zur Verfügung gestellt hatte. Potente Unternehmer hatten sich schon an der Finanzierung des „Popolo d’Italia“ beteiligt, aber noch einmal: Mussolini war viel zu hellwach, wendig und eigensüchtig, um sich mit der Rolle eines Lobbyisten abspeisen zu lassen.

Draußen, auf der Piazza San Sepolcro, verkündete er, dass „in unserer Geschichte, in unserem Blut Elemente und Fermente von Größe sind“, erklärte, „sich dem Imperialismus der anderen Völker zu widersetzen, der zum Schaden Italiens ausschlägt“. Auch soziale Forderungen wurden aufgestellt, eingeleitet durch: „Wenn die Bourgeoisie glaubt, in uns Blitzableiter zu finden, dann täuscht sie sich“ – „Daher muss man die Forderungen der arbeitenden Klassen akzeptieren….auch weil wir die Arbeiter an die Fähigkeit gewöhnen wollen, die Unternehmen zu leiten“. – „Bezüglich wirtschaftlicher Demokratie stellen wir uns auf den Boden des nationalen Syndikalismus und lehnen die Einmischung des Staates ab“. Diese nach dem ehemaligen Sozialisten Mussolini klingenden Sätze hat sich 1936 immerhin die (in die Illegalität abgedrängte) Kommunistische Partei Italiens zu eigen gemacht. Auch forderten die „sansepolcristi“ freie Wahlen, verbunden mit einer Ausweitung der Wahlberechtigung. Ein im Juni 1919 nachgeschobenes Manifest sprach sich für die Verstaatlichung der großen Unternehmen und der Produktionsmittel aus.

Nach Polizeiberichten nahmen nicht mehr als 300 Männer an der Versammlung vom 23. März 1919 teil. Darunter waren auch die späteren Akteure des „Marsches auf Rom“: Italo Balbo, Emilio de Bono, Cesare Maria De Vecchi (später vom König zum „Conte di Cismon“ erhoben), der spätere Parteisekretär Roberto Farinacci. Weiter ein ziemlich disparates Spektrum: Kriegsveteranen, mit der Spezialgruppe der „Arditi“ (etwa: der zum Kampfe Entbrannten), aus Elite-Einheiten der Armee, wie sie im Krieg gebildet worden waren, Anhänger des „Manifesto del Futurismo“ (siehe oben), revolutionsbereite Gewerkschaftler, Anarchisten, Republikaner. Filippo Tommaso Marinetti, auch er ein bekennender „sansepolcrista“, schrieb später einen poetischen Text zur Feier dieses Gründungsereignisses, abgefasst im Stile der „aeropoesia“, wie er das nannte: mit fehlender Interpunktion, fast keiner Syntax, den Verben häufig nur im Infinitiv, und einer Menge Neologismen.

Das Programm von der Piazza San Sepolcro war aus Nationalismus und Sozialismus gemischt. Aber am 15. April 1919 richtete sich die erste Gewalttat gegen die Redaktion und Druckerei des sozialistischen „Avanti“. Sie ging aufs Konto eines Kommandounternehmens der „Arditi“, die sich so ähnlich aufführten wie in Deutschland nach 1918 die „Freikorps“: abgedankte Soldaten, die mangels anderer Perspektive dem Kriegshandwerk auch in Friedenszeiten verfallen blieben. Mussolini hatte die „Arditi“ nicht angestiftet, aber er verteidigte sie nachträglich.

Das Wuchern der Gewalt

Diese erste Gewalttat wies auf zwei Elemente der Zeit bis zum „Marsch auf Rom“ voraus: auf den mehr oder weniger systematischen Einsatz von Schlägertrupps, die man „squadristi“ nannte – Männer, die zusammenarbeiteten, zur gemeinsamen Verprügelung, Folterung, auch Ermordung politischer Gegner. Und zweitens, dass Mussolini seine Bewegung nur unvollständig in der Hand hatte. Aber er war raffiniert genug, den Schrecken, den die „squadristi“ verbreiteten, im politischen Tageskampf als taktisches Mittel auszunutzen.

Im November 1919 wurden nationale Wahlen abgehalten. Noch während des Krieges hatte die Regierung angekündigt, das bisherige Mehrheitswahlrecht in ein Verhältniswahlrecht umzuändern. Das schien eine Chance für kleinere Gruppierungen zu eröffnen, wie es die „Fasci di Combattimento“ auch noch Monate nach „Piazza San Sepolcro“ waren. Mussolini machte Wahlkampf mit der Forderung nach der Anhebung von Vermögens- und Erbschaftssteuer (das war gut sozialistisch gedacht), sowie nach Umkrempelung der Verfassung durch eine verfassungsgebende Versammlung, mit dem Ziel, die Monarchie abzuschaffen. Koalitionsgespräche mit den Sozialisten scheiterten.

Die Wahlen vom 16. November 1919 brachten einen klaren Sieg der Sozialisten (PSI), und des soeben gegründeten „Partito Popolare Italiano“ (PPI), dem die engagierten Katholiken angehörten, die sich dem Vatikan und der Amtskirche gegenüber jedoch einen nicht unwesentlichen politischen Freiraum gönnten. Die Liberalen, die das Parlament in der Vorkriegszeit beherrscht hatten, erlitten empfindliche Verluste. Und Mussolinis Mannen errangen keinen einzigen Sitz. In Mailand hatten sie 4795 Stimmen geerntet, doch der PSI mehr als 170 000, der PPI fast 70 000. Später hieß es: hätten Sozialisten und „Popolari“, diese beiden Massenparteien, zusammen mit den liberalen Gruppierungen des alten Giolitti sich vereinigt, dann hätten sie die Machtergreifung der Faschisten verhindern können. Sie standen aber nicht zusammen, und der König half ihnen auch nicht. Es waren ja Republikaner darunter.

Der geschlagene Mussolini war einige Tage lang nahe daran, auszuwandern. Aber er schwang weiter seine aggressive Feder: er verachte „zutiefst alle Arten von Christentum, von demjenigen Jesu Christi bis zu dem von Marx“, soll wohl heißen: alle verbindlich auftretenden Deutungen der Welt, und wünschte sich einen Neuanfang des Lebens „in den heidnischen Formen des Kultes der Gewalt und der Kühnheit“. Dies verbunden mit der Feier des großen Individuums, das alle anderen hinter sich her schleift, etwa im Sinn des „Übermenschen“, wie Nietzsche ihn skizziert hatte.

Sofern hier eine politische Einordnung möglich ist, mag man von Anarchismus sprechen, dessen taktisches Motiv wohl war, sich mit unbestimmten, hochtrabenden Phrasen die unsichere Zukunft offen zu halten, da seit der Wahlniederlage auf die „Fasci di Combattimento“ nicht mehr zu setzen war.

Zustatten kam ihm, dass die Sozialisten ihren Wahlsieg nicht in wirkungsvolle Politik umzusetzen verstanden. Sie verfielen nämlich auf die „scioperomania“ (Streikwahn), an sich eine scharfe Waffe, denn bekanntlich stehen alle Räder still, wenn dein starker Arm es will. Aber die Streiks mit den jeweiligen Gewalttaten, die auch Todesopfer forderten, wurden nun zwar häufig, waren jedoch nicht koordiniert, und die Gemäßigten in der Parteileitung billigten sie auch nicht. Es ging bei den Streiks um die Besetzung von Fabriken, nicht um Besetzung von Ackerland, wie sie die armen Bauern im Mezzogiorno übten und dabei von radikalen Kräften („Linkskatholiken“) des „Partito Popolare“ Unterstützung bekamen. Nehmen wir dies als Hinweis darauf, dass im „Partito Popolare“ divergierende Strömungen von Links über Klerikalismus mit Konservativ-Rechts-Patriotisch bestanden, und dass folglich die politische Schlagkraft der „Popolari“ darunter erheblich litt (Ähnliche Probleme hatte die Nachfolgepartei der „Democrazia Cristiana“ nach 1945).

Angst vor dem Bolschewismus

Die „scioperomania“ bewirkte nichts anderes, als die Besitzenden und Industriellen in Furcht vor dem Gespenst des Bolschewismus zu versetzen, hatten doch einige Fabriksbesetzer unter der Belegschaft „Räte“ ausgerufen, auf russisch „Sowjets“. Damit berühren wir einen der wesentlichen Faktoren, die Mussolini zur Macht verhalfen: die Angst, eine bolschewistische Revolution mit maximalem Umsturz der Gesellschaft könnte sich auch in Italien ereignen. Aber die Sozialisten brachten keine geeignete Führungsfigur hervor, wie es Lenin in Russland war. Lenin und Trotzki sollen gesagt haben (so kolportierte es jedenfalls der „Corriere della Sera“, als Mussolini schon an der Macht war), der einzige Politiker, der in Italien eine sozialistische Revolution machen könnte, sei eben dieser.

Der seinerseits bewunderte Lenin ganz besonders. Er bezeichnete allerdings Lenins Herrschaftspraxis als „vollkommene Negation des Sozialismus“. Lenin habe nur gezeigt, wie einige wenige, entschlossene Leute die Macht an sich reißen konnten. Das war es, was ihn faszinierte: die Technik der Machtergreifung. Es zeugte von seiner, sagen wir es freundlich: weltanschaulichen Vorurteilslosigkeit, die jedoch im politischen Nachkriegs-Trubel Italiens auch einen großen taktischen Vorteil bedeutete. Den Bolschewismus hielt er für keine große Gefahr im Lande, nicht für größer als in England und Frankreich. Später inszenierte er sich mit Hilfe seiner Lobredner im In- und Ausland als Retter vor dem Kommunismus, aber nach eigener besserer Einsicht war er das gar nicht. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte, und das des Generals Bonaparte ist eines der bekanntesten, dass politische Retterfiguren mit Anklängen an einen „Messias“ den propagandistischen Wert einer solchen Stilisierung viel zu notwendig haben, als dass man ihn unbesehen als bare Münze nehmen dürfte.

Die Groteske von Fiume

Um die Jahreswende 1919/20 brauchte der angezählte Mussolini nun aber eine zündende Idee, um weiter im Rennen zu bleiben. Er fand sie im Nationalismus, der sich wegen der „vittoria mutilata“ zum Chauvinismus steigerte. Auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 hatte der Ministerpräsident aus dem Lager der Liberalen, Vittorio Emanuele (sic!) Orlando, gegenüber den Vertretern der anderen drei Siegermächte (Präsident Wilson für die USA, Georges Clemenceau für Frankreich, Lloyd George für Großbritannien) nicht gut abgeschnitten. Das galt für die kolonialen Aspirationen Italiens in Kleinasien und Afrika, sowie für Erwerbungen in Dalmatien. Ein Streitpunkt war der Besitz der Hafenstadt Fiume (Rijeka, Kroatien).

Huldigung d`Annunzios durch die Massen in Fiume/Rijeka im Jahre 1920 – noch unter der Flagge des Königreichs Italien (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Mussolini hatte sich im „Popolo d’Italia“ dafür eingesetzt, dass auch diese an Italien fallen müsste, denn etwa die Hälfte ihrer Einwohner war italienischer Nationalität. Das verweigerte aber das soeben gebildete Königreich Jugoslawien. Präsident Wilson schlug vor, Fiume-Rijeka zu einem Freistaat zu machen. Doch in der Stadt bestanden bereits italienische Freiwilligen-Milizen, bei denen die schon erwähnten „Arditi“ und abgedankte Offiziere eine besondere Rolle spielten. Die trugen D’Annunzio, der durch einige verwegene Taten im Krieg nationale Popularität gewonnen hatte, den Oberbefehl über eine (nicht-staatliche!) Expeditionstruppe an, die Fiume im Handstreich besetzen sollte. Der nahm überaus gerne an, denn er war nun einmal einer der schneidigsten Dichter der Literaturgeschichte, sammelte etwa 1000 Mann (wie die legendären „Mille“ Garibaldis!), streute bei jeder Gelegenheit elaborierte Phrasen um sich, besetzte am 12. September 1919 Fiume tatsächlich und wurde dessen illegales Staatsoberhaupt.

Er machte aus Fiume ein Exerzierfeld für seine zwischen Poesie und Politik oszillierende Phantasie. Tägliche Ansprachen, manchmal auch zweimal am Tag, vom Balkon seines Regierungspalastes aus, seine Truppe hatte mit erhobenem rechtem Arm zu grüßen, denn so hatten es die ruhmreichen Legionäre in der römischen Antike getan, Parade im Stechschritt, der als „Passo romano“ durchging, am Gürtel einen Dolch, den Triumphschrei „Eia, eia, alalà“, schwarze Hemden (camicie nere) mit einem Totenkopf darauf.

Die Hymne hieß „Giovinezza“ (Jugend), wie von den „Arditi“ im Kriege gesungen. Wir müssen sie in ihrem Refrain auf italienisch wiedergeben: „Giovinezza, giovinezza, primavera di bellezza, della vita nell’asprezza (in seiner Rauheit) il tuo canto squilla e va“. Kämpferischer Jugendkult also, ganz im Sinne der Traditions-zertrümmernden Futuristen der Vorkriegszeit, Fiume als zukunftsgewandte Zelle für die universale Neugeburt Italiens und dann der ganzen Welt! So schwärmte D’Annunzio, und er magnetisierte von seinem Balkon aus die jubelnden Anhänger: „Wem gehört Fiume?“ Donnernde Antwort: „Uns!“- „Wem gehört Italien?“-„Uns!“ Es ist nun schade, dass wir hier nicht alle bunten und auch skandalösen Facetten dieser doch ziemlich operettenhaften Republik ausbreiten können, sondern uns auf die erwähnten Einzelheiten beschränken müssen, da sie ein Vorgriff auf die spätere Symbolik und Choreographie des regierenden Faschismus sind. Auch das Schlagwort von den „immancabili destini“, den „sich unweigerlich erfüllenden Geschicken“ der erobernden „razza latina“ nämlich, kam schon in Fiume auf, und das „Mare Nostrum“ war dort sowieso in aller Munde.

Ministerpräsident Nitti, der der kleinen Partei der „Radicali“ angehörte, einst einem Bündnispartner des liberalen Giolitti, war im offiziellen Rom entsetzt, denn General Badoglio sagte ihm, er könne der Loyalität der Armee nicht sicher sein, um dem Treiben in Fiume kurzerhand ein Ende zu bereiten. Neben den Nationalisten waren sogar einige Sozialisten begeistert, denn sie hielten die Aktion für einen „Vorläufer der proletarischen Revolution“. Mussolini musste auf den fahrenden Zug schleunigst aufspringen, und er schrieb: „Italiens Hauptstadt ist am Carnaro (italienischer Name des Golfes der Adria, an dem Fiume liegt). Dort ist unsere Regierung, der wir von nun an gehorchen werden“. Der populäre D’Annunzio entwickelte sich zur nationalen Konkurrenz für den im Augenblick so gut wie machtlosen Parteiführer, der musste ihn also hofieren. Er reiste nach Fiume, äußerlich blieben beide eines patriotischen Sinnes, doch Mussolini soll dem Poeten auszureden versucht haben, dass der Erfolg von Fiume zu einem handfesten „Marsch auf Rom“ weiter entwickelt wurde. Dahinter stand nicht nur Eifersucht, sondern auch ein höher entwickelter Realitätssinn.

Gabriele d`Annunzio (1863-1938), Schriftsteller, ideologischer Ideengeber und Mentor Mussolinis, auf einer Briefmarke des „Freistaats Fiume“ von 1920, der als Experimentierfeld des Faschismus galt.

Giolitti regiert – zum letzten Mal

Dann musste Nitti zurücktreten (Juni 1920), ihm folgte der einst vielfach bewährte Giolitti. In Turin, Mailand und Genua wurden Fabriken besetzt, weil dort die gut organisierten Arbeiter Mitbestimmung über die Geschäftsleitung forderten. Es gelang Giolitti, den Konflikt mit einem Kompromiss beizulegen. Aber auch solche hochentwickelten Künste des Ausgleichs verfingen nichts gegen den wachsenden Überdruss der Wählerschaft über die von den Sozialisten herrührende Unruhe und Unordnung. Die innenpolitischen Zeichen der Zeit begannen, neben forciertem Nationalismus, auch auf „Ruhe und Ordnung“ zu stehen.

Ende Oktober 1920 fanden Kommunalwahlen statt, die das bestätigten. Mussolini wollte nicht wieder leer ausgehen wie im November 1919 und reihte seine Kandidaten daher in die „blocchi nazionali“ ein, eine Listenverbindung aller moderat und rechtskonform Denkenden. Auch Kardinal Ferrari, der Erzbischof von Mailand, rief zur Wahl der „blocchi nazionali“ auf. Die Kirche positionierte sich also im politisch rechten Spektrum. Die „blocchi“ errangen landesweit große Erfolge, im Mezzogiorno ebenso wie in Rom, Florenz, Genua und Turin.

Für Mussolini war die Zeit gekommen, seinen Schlägerbanden, den „squadre“ mit ihren „squadristi“, bei denen, wenn es sich nicht einfach um Gesindel oder um rachsüchtige Nachbarn handelte, alle möglichen Vorstellungen bis hin zum Anarchismus die Runde gemacht hatten, die Einforderung von „law and order“ zum Ziel zu setzen. Es spricht nun wieder für seine taktische Wendigkeit, dass er sich auf gleich drei Ebenen synchron zu bewegen verstand: ganz seriös auf der von „law and order“, daneben auf der der illegalen Gewalt, bis hin zu Sadismus und Totschlag, wie die „squadristi“ sie übten, um sich andererseits als Hüter der staatlichen Ordnung zu empfehlen – ganz wie der Glasermeister, der vorher die Scheiben eingeworfen hat. Und drittens war er seiner „squadristi“ nicht einmal unbedingt Herr, ein partei-internes Problem, mit dem er ebenfalls jonglieren musste.

Denn lokal und regional hatten stürmische Anführer das Sagen: zum Beispiel in Cremona Roberto Farinacci, in Ferrara Italo Balbo, in Bologna Dino Grandi. Der unbändigste war Farinacci, der relativ intelligenteste und kultivierteste war Grandi, den sein Chef daher „nur einen halben Faschisten“ nannte. Von Balbo sagte er, dieser wäre als einziger dazu imstande, ihn zu töten. Solche Häuptlinge hießen „Ras“, nach der für Regionalfürsten in Äthiopien üblichen Bezeichnung. Dort gab es auch einen übergeordneten „Kaiser“ oder „Negus“, und italienische und äthiopische „Ras“ hatten die beziehungsreiche Gemeinsamkeit, dass sie ihrem übergeordneten Chef keinesfalls in allem folgten.

Im November 1920 wurde das Problem Fiume auf internationaler Ebene beigelegt. Rom erkannte Fiume als „freie Stadt“ an. Nun standen loyale Heereseinheiten bereit, um D’Annunzio aus Fiume zu vertreiben. Giolitti erkannte, dass Mussolini mit dem Unternehmen des Poeten vorsichtshalber nichts zu tun haben wollte, dessen gewaltsamer Sturz würde also im Lande keine unkontrollierbaren nationalen Schockwellen auslösen. Am Abend des 24. Dezember musste der Poet weichen, nicht ohne zu betonen, es hätte nicht gelohnt, „den eigenen blutenden Körper“ (also sein Leben) einem Volk zu opfern, das Fiume im Stich ließ. Dann zog er sich grollend nach Gardone am Gardasee zurück, wo er, für Mussolinis Ehrgeiz aus dem Weg geräumt, sich von nun an der Ausgestaltung seiner bizarren Villa „Vittoriale degli Italiani“ widmete.

Zu dieser Zeit gab Mussolini selbst seine Hausmacht mit 88 „Fasci“ und 20 000 Mitgliedern an. Das war eine kleine Minderheit im Lande, und noch dazu verstand sie sich als „Bewegung“, also nicht als zentral organisierte Partei. Aber die Bewegung erwies sich als steigerungsfähig. In der Emilia und Romagna waren die alteingesessenen Grundbesitzer aufgeschreckt über die von Sozialisten oder einfach armen Leuten tumultuarisch durchgeführten Landbesetzungen. Sie verkauften daher oft ihre Latifundien an ehemalige Pächter oder Kleinbauern. Die erblickten in den „Fasci“ einen effektiven Schutz für ihre neu erworbenen Rechte, so entschieden, dass sie sich auch der Organisation und Finanzierung der „squadre“ annahmen. So wurden aus den 88 „Fasci“ 834 und aus den 20 000 Mitgliedern 250 000. Die Bewegung erfasste auch die Toscana, und Mussolini konnte sie Giolitti als Ordnungsmacht verkaufen.

Dann kam auch in die sozialistische Bewegung ein zusätzliches Element hinein, und es konnte sogar als ein bolschewistisches bezeichnet werden: Unter dem Druck der in Moskau gegründeten und von Moskau dirigierten „III. Internationale“ spalteten sich radikale Sozialisten vom PSI ab und gründeten am 21. Januar 1921 in Livorno den „Partito Comunista d’Italia“, später: „Partito Comunista Italiano“.

Giolitti als Partner der Faschisten?

Die verbleibende PSI war aber immer noch so radikal, dass sie weiterhin ein ernst zu nehmender Gegner Giolittis blieb. Der hoffte nun, sie würde durch die „squadre“ derart drangsaliert, dass sie mürbe würde,  um mit den Liberalen eine Koalition einzugehen. Dazu hätte auch noch der „Partito Popolare“ stoßen können. Dann hätte sich die Gefahr erledigt, die von Mussolini ausging, und der würde in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wie schon D’Annunzio.

Zunächst brauchte Giolitti die „squadre“ aber noch, was die zu weiteren straflosen Schandtaten ausnützten, und so nahmen die „Fasci“ im Rahmen der „blocchi nazionali“ an den Parlamentswahlen des 15. Mai 1921 teil. Unter den 535 Sitzen, die zu vergeben waren, gewannen die „Fasci“ 37, Mussolini wurde für Bologna gewählt. Die „Liberali Giolittiani“ kamen auf 58 Sitze.

Der Liberale Giovanni Giolitti (1842-1928) war zwischen 1892 und 1921 neun Mal Ministerpräsident des Königreichs Italien (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Das war für die „Fasci“ auch noch kein Erdrutsch. Aber sofort verkündete Mussolini vollmundig, dass die Seinen an einer neuen Regierung Giolitti nicht teilnehmen würden, auch nicht an der Inaugurations-Rede des Königs für das neue Parlament, weil sie sich noch nicht entschieden hätten, ob sie Monarchisten oder Republikaner sein wollten. Giolitti musste einsehen, dass sein Versuch gescheitert war, diese Leute dadurch zu bändigen, dass er sie in das parlamentarische Spiel hineinholte. Er hätte sich zur Regierungsbildung nun auf den „Partito Popolare“ stützen müssen, der einige Sitze zusätzlich bekommen hatte. Doch die gegenseitige Aversion war zu groß, und so verließ Giolitti die politische Szene endgültig. Das war für Mussolinis Zukunft sehr nützlich, zusätzlich zum Ausscheiden D’Annunzios.

Es entsteht der „Partito Nazionale Fascista“

Aber er war nicht der Herr seiner „squadre“. Deshalb, als er in typischer Wendigkeit mit den Sozialisten einen „patto di pacificazione“ einzufädeln begann, weil die Schlägereien zugunsten der Landbesitzer in Emilia, Romagna und Toscana ihn zu sehr auf die Rolle eines konservativen Büttels festzulegen schienen, zwangen ihm die „Fasci“ der Emilia und des Veneto ein Zusammentreten des „Consiglio Nazionale“ auf. Da redeten zwar alle mit, aber die Veranstaltung darf nicht mit einem regulären Parteitag verwechselt werden, wie ihn der aktuelle deutsche Staatsbürger zumindest aus dem Fernsehen kennt.

Mussolini musste Konzessionen anbieten, wobei er noch hoffte, eine nun drohende Koalition aus Sozialisten und „Partito Popolare“ würde die aufmüpfigen Kampfgefährten zur Disziplin zurückführen. Diese aber verweigerten sich und unterstrichen das, indem sie zu den ihnen so teuren „spedizioni punitive“ (Strafexpeditionen) in Treviso (Veneto) und Sarzana (Ligurien) schritten. Doch denen traten vor Ort nicht nur sozialistische und kommunistische Prügelgarden entgegen, sondern auch Carabinieri, also die Staatsmacht, und das mit durchschlagendem Erfolg. Es gab auch Tote.

Mussolini versuchte, daraus in seinem Sinne Kapital zu schlagen, und berief einen weiteren „Consiglio Nazionale“ nach Rom ein. Dort betonte er, der Faschismus sei gegründet worden, um die Interessen der Nation zu verteidigen, und nicht die einer Klasse (der Landbesitzenden). Entweder die offene Revolution oder eben den „patto di pacificazione“. Doch der Grundsatzstreit ging weiter. Wo sollten die „squadristi“ denn hin, wenn sie die Sozialisten nicht mehr malträtieren durften? Es kam so weit, dass die „Ras“ Grandi und Balbo zu D’Annunzio wallfahrteten, um ihm die Nachfolge Mussolinis anzubieten. Doch der erwies sich als nicht imstande, ihnen eine klare Antwort zu geben. Er war politisch also wirklich fertig, denn ein Taktierer war er nie gewesen, nur ein unglaublich narzisstischer Agitator.

Mussolini drohte mit seinem Rücktritt. Da leisteten ihm ausgerechnet die Sozialisten eine Steilvorlage, indem sie lautstark jubelten, nun sei die faschistische Gefahr erledigt. Grandi, Balbo und andere verfielen in Reue, weil sie ohne diese Gefahr keine Rolle mehr spielen konnten, und der Weg wurde frei, dass Mussolini auf dem „Congresso Nazionale“ (7. November 1921 in Rom) die Bewegung in eine ordentlich organisierte Partei umwandeln konnte, mit dem Zweck, sich endlich deren zentrale Kontrolle zu sichern. Er war auf dem besten Weg, nun tatsächlich zum „Duce“ zu werden. So trat der „Partito Nazionale Fascista“ (PNF) ins Leben, die spätere Staatspartei. Programmatisch sprach der derart gestärkte Vorsitzende: Man habe davon geträumt, die Macht auf revolutionärem Wege zu erringen, durch einen „Marsch auf Rom“. Aber in Rom existiere der Faschismus ja bereits, und dort wolle er auch bleiben, jedoch mit ganz anderen Mitteln.

Da fällt besonders dem deutschen Leser ganz zwanglos die Parallele zum Aufstieg Adolf Hitlers ein. Legal an die Macht, um dann die bestehende Legalität zu zerstören. So weit, so gut. Aber die Banden der „squadre“ blieben bestehen, dazu waren sie als Mittel der Erpressung, wie die Lage nun einmal war, viel zu nützlich.

Die schwache Regierung Facta

Die Parteien des Parlaments in ihrer Zerstrittenheit machten den Faschisten die Sache einfacher. Die Sozialisten mit ihren internen Spaltungen, die zu tun hatten mit der Gründung der kommunistischen Partei aus ihren radikalen Mitgliedern, konnten nicht dominieren. Viele der Gewerkschafts-Mitglieder liefen zu Mussolinis Leuten über, da sie die Parolen ihrer Führungsmannschaft nicht mehr ernst nahmen, und auch die Faschisten hatten schon Gewerkschaften gegründet. Und die Liberalen und der „Partito Popolare“ waren weltanschaulich nicht auf einen Nenner zu bringen – hier Laizismus, Freimaurerei, Trennung von Kirche und Staat, dort Katholizismus mit Schielen auf den Vatikan. Die taktischen Forderungen des Tages verschwanden vor erhabenen Grundsatzerklärungen. Zudem waren die Faschisten als Gefahr gar nicht eindeutig im Visier, weil immer noch die Hoffnung auf ihre parlamentarische Bändigung bestand.

Unter solchen Umständen konnte Ministerpräsident Luigi Facta ab Februar 1922 nicht viel ausrichten, die „squadristi“ tobten weiter, besonders in der Po-Ebene, und jeden Tag gab es Tote. Dann verkündete die sozialistische „Alleanza del Lavoro“ für den 1. August 1922 einen Generalstreik, das schärfste Mittel im Machtkampf, unterhalb des offenen Bürgerkrieges – den die „squadristi“ aber eigentlich schon führten.

Das artete aus zu einem Geschenk für die Faschisten, denn wo die Funktionen des zivilen Lebens lahmgelegt wurden, und wo also der Staat seine Hilflosigkeit zeigte, sprangen von den Faschisten organisierte Spezialisten und Techniker ein, und demonstrierten damit die doch eigentlich staatstragende Qualität dieser anti-demokratischen Partei. Mussolini konstatierte: „Die Geschichte nahm eine Wendung nach rechts“.

Mitte August („Ferragosto“) 1922 tagte in Mailand das Zentralkomitee des PNF, und man beriet über die Frage, ob man die Macht, die angesichts des gescheiterten Generalstreiks der Sozialisten auf der Straße zu liegen schien, auf legalem oder auf revolutionärem Wege, mittels der „squadristi“, erringen sollte. Gegen den Weg über die „squadristi“ sprach, dass man sich auf diese Weise vom Element der Gewalt abhängig machen würde, was keine Stabilität versprach, die eine Regierung zu ihrem Überleben brauchte. Mussolini war dafür, dass man die Situation noch vor dem Winter ausnützen musste, und entschied sich daher in einem seiner vielen taktischen Kompromisse, dass man den ersehnten „Marsch auf Rom“, das Sehnsuchtsziel der „squadristi“, zumindest vorbereiten müsste.

Aber auch die politischen Voraussetzungen für dessen Gelingen waren zu schaffen. Denn er misstraute der Fähigkeit seiner entfesselten Kolonnen, über lokalen Terror hinaus den legalen Staat zum Einsturz zu bringen.

Inzwischen war die Regierung Facta zusammengebrochen und gleich danach wieder neu konstituiert worden, was dem Ansehen des Parlamentarismus auch nicht aufhalf. Im heutigen Italien ist so etwas wenn nicht alltäglich, so doch auch nicht unüblich. Aber damals lagen die Faschisten auf der Lauer, heute hat man diese bedrohliche Verlegenheit nicht. Auch die Kommunisten waren zerstritten. Ihr besonders radikaler Flügel verweigerte jegliche Kooperation mit den anderen Parteien, um die Faschisten aufzuhalten, und ihr Anführer Bordiga erklärte: „Wenn die Faschisten die Baracke des Parlaments niederreißen würden, dann wären wir überaus froh“.

Was wird der König tun?

So waren nicht die Parteien für die Machtergreifung der Faschisten das Hauptproblem, sondern der König in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Armee, wie es hergebrachter piemontesischer Tradition entsprach. Auch in der Armee gab es Sympathisanten für den Faschismus, wo Generalleutnant Emilio De Bono der Partei im Juli 1922 beigetreten war, dem dann noch unter Mussolinis Herrschaft eine hervorragende militärische Karriere beschieden war. Aber es war keine Frage, dass die Armee letztlich auf den Befehl des Königs hören würde. Und gegen ihren Professionalismus hätten auch die wildesten „squadristi“ keine Chance.

Mussolini sagte zu einem seiner Vertrauten: „Wenn es in Italien eine Regierung gäbe, die diesen Namen verdient, müsste sie am heutigen Tag ihre Carabinieri hierher schicken, um uns auseinander zu treiben und unsere Zentralen zu besetzen. Eine bewaffnete Organisation mit so viel Abteilungen und regulärer Ordnung in einem Staat, der sein Heer und seine Polizei hat, ist nicht vorstellbar. Nur dass in Italien der Staat nicht existiert. Es nützt nichts, wir müssen mit Gewalt an die Macht kommen. Sonst wird die Geschichte Italiens nur eine dürftige Skizze“.

Die Königin-Mutter Margherita (nach der die „Pizza Margherita“ benannt ist) war philo-faschistisch eingestellt, aber ihr Sohn hatte die feste Angewohnheit, nicht auf sie zu hören. Es gab auch noch Amedeo, den späteren Herzog von Aosta, den Cousin des Königs, mit dem die Faschisten Kontakt aufgenommen hatten, und der des Königs Sympathien für diese zu erwecken suchte. Aber der neigte dazu, um die Ecke zu denken, und misstraute Amedeo daher, dass der ihn eventuell mit Hilfe der Faschisten vom Throne stoßen könnte.

Es droht der „Marsch auf Rom“

Facta versuchte, was er konnte. Er ließ den in Gardone weilenden D’Annunzio bitten, einen Marsch der alten Weltkriegskämpfer nach Rom anzuführen, um dort in ausladendem Stile am 4. November 1922 den vierten Jahrestag des Sieges über Österreich-Ungarn zu feiern. Der alte Dichter war zunächst sehr angetan. Dann schickte Facta den Kriegsminister und den Präfekten von Mailand zu Giolitti auf dessen Landsitz in Piemont, mit der Bitte, seinen Platz in der Regierung zu übernehmen. Giolitti nutzte den Präfekten, um mit Mussolini in Verbindung zu treten. Der signalisierte Gesprächsbereitschaft, um den Alten, dessen taktische Geschicklichkeit er fürchtete, weil sie der seinen gleich kam, möglichst hinzuhalten.

Facta und Giolitti ihrerseits hofften immer noch, die ungebärdigen Faschisten irgendwie ins normale politische Leben einbinden zu können, sie „verfassungsmäßig zu machen“ (costituzionalizzare). Dies Bestreben führte auch dazu, dass im „Corriere della Sera“, der angesehensten Zeitung des Landes, empfohlen wurde, Mussolini ins Kabinett aufzunehmen, just nachdem eine „squadra“ – mit Zustimmung des Chefs! – sich in Trient und Bozen ausgetobt hatte, um das Engagement der Faschisten für die „erlösten Gebiete“ (terre redente) zu unterstreichen, in diesem Fall für Südtirol bis zum Brenner.

Nicht erst, wie auf diesem Foto, im Jahre 1936 marschierten „Schwarzhemden“ durch die Via dell`Impero in Bozen. Schon im Vorfeld der Machtergreifung der Faschisten tyrannisierten diese die Neubürger Italiens im bis 1918 österreichischen Südtirol (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Doch keinesfalls durfte D’Annunzio seinen großen Auftritt in Rom haben, denn das hätte nicht zu der Drohkulisse des „Marsches auf Rom“ gepasst. Am 11. Oktober eilte Mussolini nach Gardone, und es scheint ihm gelungen zu sein, dem Dichter sein Konkurrenz-Unternehmen auszureden. Wenig später, kurz vor Mussolinis Übernahme der Macht, sagte D’Annunzio: „Ich bin kränklicher als früher. Ich verzichte auf alles, unwiderruflich. Jeder Versuch (ihn zu engagieren) wird vergeblich sein“.

Am 12. Oktober verkündete Mussolini in Mailand, dass zum 21. Oktober ein „Quadrumvirat“ gebildet werden sollte, um die „squadre“ zusammenzuziehen und einen Zeitplan zum konzentrischen Marsch auf Rom aufzustellen. Die „Quadrumvirn“ waren Michele Bianchi, der Sekretär des PNF, Emilio De Bono als militärischer Fachmann, Italo Balbo und Cesare Maria De Vecchi, mit doppeltem Doktortitel, dann aber zuschlagender „squadrista“ in Piemont, eigentlich königstreu. De Vecchi und De Bono wandten ein, die Bewaffnung wäre zu dürftig, die Befehlsstrukturen wären nicht klar, und zur Schaffung einer schlagkräftigen Truppe fehle die Zeit. Mussolini schnitt ihre Einwände ab: man dürfe aber keine Zeit verlieren. Das war sein kurz angebundenes Kommando-Gehabe, zwecks Hervorkehrung seiner Autorität.

Aber nun sagte ihm sein taktisches Gespür: jetzt oder nie, politisch hatte er gegen De Vecchi und De Bono Recht. Eine gewaltbereite Bewegung kann ihren Schwung nicht beliebig lange bewahren, und eine derart schwächelnde Regierung konnte durch eine entschlossene Attacke umgeworfen werden. Dass seine Banden der Armee und den Carabinieri im Ernstfall nicht gewachsen wären, wusste er.

Parteitag in Neapel

Am 24./25. Oktober fand in Neapel der Parteitag des PNF statt. Zehntausende von „camicie nere“ und Faschismus-nahen Gewerkschaftlern ergossen sich über die Stadt, die jubelte wie bei einem Volksfest. Auf der Bühne des altberühmten Teatro di San Carlo, vor den Kulissen einer Aufführung von Puccinis „Madama Butterfly“, kritisierte Mussolini, wie üblich, die Regierung in Grund und Boden. Der Staat sollte endlich aus seiner „grotesken Neutralität zwischen den Kräften der Nation und den Kräften der Anti-Nation“ heraustreten. Die Faschisten wollten nicht „durch die Dienstbotentür“ an die Macht; sie forderten die Ministerien des Äußeren, des Heeres, der Marine, der Arbeit, der öffentlichen Arbeiten, sowie das Kommissariat der Luftfahrt.

Auf der Piazza Trieste e Trento (bis 1919 Piazza San Ferdinando), gegenüber dem Teatro di San Carlo, nahm er einen großen Vorbeimarsch seiner militanten Anhänger ab und rief aus: „Entweder sie geben uns die Regierung, oder wir fallen über Rom her und nehmen sie uns. Jetzt handelt es sich um Tage, vielleicht nur um Stunden“.

Benito Mussolini (1883-1945, Mitte) mit den angesprochenen Mitstreitern Emilio de Bono (1866-1944), Italo Balbo (1896-1940) und Cesare de Vecchi (1884-1959) am 28. Oktober 1922 (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Zuspitzung der Krise

Dann verschwand er nach Mailand und telegraphierte an Facta, wenn er Ministerpräsident würde, dann wollte er weniger an Ministerämtern verlangen. Der König ließ an Facta bestellen, das wäre eine passende Lösung. Am Nachmittag des 26.10. erklärte Factas Ministerriege ihre Bereitschaft zum Rücktritt. Das wurde am Vormittag des 27. dem König mitgeteilt. Am selben Tag feierte Giolitti im fernen Piemont seinen 80. Geburtstag. Man bat ihn, eiligst nach Rom zu kommen, doch es erwies sich, dass die Eisenbahnverbindungen unterbrochen waren.

Das „Quadrumvirat“ schlug seinen Sitz in Perugia auf, dem Hauptort Umbriens. Die Marschkolonnen erhielten den Befehl, in drei Säulen Richtung Rom vorzurücken und sich bei Santa Marinella (südlich von Civitavecchia am Meer), Monterotondo (nördlich von Rom am Tiber) und Tivoli zu sammeln, insgesamt etwa 26 000 Mann. In der Hauptstadt standen 28 000 Mann des Heeres und der Carabinieri.

In den Provinzhauptstädten des nördlichen und mittleren Italiens wurden die Präfekturen, Polizeiwachen, Telefon- und Telegraphenämter von den Faschisten besetzt. Allerorten war der Widerstand Null oder gering, Blut floss keines. In Bologna und Ferrara gingen die Faschisten in die Kasernen, um ihre spärliche Bewaffnung aufzubessern. Nun begann aber ein deprimierender Dauerregen, und das Militär hatte die Eisenbahnen blockiert, was den „Marsch auf Rom“ unter großer Ratlosigkeit der Marschierenden sehr behinderte, denn eigentlich hätte der, um kostbare Zeit zu sparen, auf dem Schienenweg erfolgen sollen.

Ausnahmezustand?

Am Abend des 27. traf der König von seiner Residenz im Park von San Rossore (nahe Pisa) in Rom ein und erklärte Facta alsogleich, er wolle den Faschisten nicht nachgeben. Etwa gleichzeitig erfuhr man, dass Mussolini mit einem Ministerwechsel allein nicht zufrieden wäre. Facta sprach mit dem König die Proklamation zur Verkündung des Ausnahmezustandes ab, und sie wurde schon vorab in Rom rundum angeschlagen, mit der Aussicht, dass der König sie am nächsten Morgen unterschreiben würde. Um 5.00 Uhr früh am 28.10. erhielt der in Rom kommandierende General Pugliese den schriftlichen Befehl, zur Verteidigung der Hauptstadt bereit zu sein.

Um 9.00 begab Facta sich zum König und bat ihn, das Dekret über den Ausnahmezustand zu unterschreiben. Doch nun weigerte sich der! Was war geschehen?

Der – gefühlte – Rivale um den Thron, Herzog Amedeo, hatte sich in die Nähe von Perugia begeben, wo das „Quadrumvirat“ waltete, und angeblich eine Parade der Faschisten abgenommen. Als konstitutioneller König hätte Viktor Emanuel eigentlich unterschreiben müssen, was ihm die Regierung vorlegte, und diejenige Factas war übergansweise noch im Amt. Bisher hatte er das auch immer so gehalten. Ob er nunmehr, durch Widerspruch zu seiner Regierung, die Verfassung gebrochen hatte, ist staatsrechtlich allerdings umstritten. Doch er hörte nicht auf die Militärs, die für hartes Durchgreifen plädierten. Aber er hatte gesprochen mit Luigi Federzoni, der vor einiger Zeit dafür gesorgt hatte, dass die, wie der Name schon andeutete, stramm nationalistische Partei „Associazione Nazionalista Italiana“ mit dem PNF fusionierte.

Nach dem Gespräch telefonierte Federzoni mit Mussolini, der in Mailand saß und abwartete. Wahrscheinlich bekam dieser dabei mitgeteilt, dass der König das Blutvergießen in einem Bürgerkrieg fürchte und daher den Faschisten erlaube, friedlich in Rom einzuziehen.

Des Königs Vater Umberto hatte 1898 den Ausnahmezustand unterschrieben. Aber, so geht der hässliche Verdacht, damals war es darum gegangen, auf revoltierende Arbeiter und arme Leute zu schießen, doch nun standen die Rechten vor der Tür. Die schienen weitaus akzeptabler, denn Mussolini hatte die republikanische Propaganda bereits sorgsam zurückgefahren, und das Wirtschaftsprogramm des PNF pries den Liberalismus, gegen alle einstigen Verstaatlichungs-Absichten. Der große liberale Philosoph Benedetto Croce, eine Leuchte der italienischen Geistesgeschichte, hielt die Machtübernahme durch Mussolini für eine bessere Lösung als die grassierende Anarchie – obwohl die ebenso auf das Konto von Mussolinis entfesselten Haufen ging. Gerade dieses Auftrumpfen in Gewalttätigkeit zeigte doch aber auch, dass die Faschisten sich bewusst waren, nur eine Minderheit zu bilden.

Er will in aller Form gebeten werden

Im Laufe des 28.10. gab der König dem Liberalen und Giolitti-Intim-Parteifeind Antonio Salandra den Auftrag zur Regierungsbildung, die eine Koalition mit den Faschisten herbeiführen sollte. Mussolini teilte über Federzoni und den Präfekten von Mailand mit, die Lage würde sich verschlechtern, wenn man Salandra und nicht ihn selbst als Ministerpräsidenten haben wollte. Er wusste, dass der König sich durch die erwähnte Verweigerung der Unterschrift in seine Hand gegeben hatte. Sollte Viktor Emanuel wieder zurückrudern wollen, wie man nach dem Auftrag an Salandra argwöhnen konnte, dann würde sein Thron nun tatsächlich ins Wanken geraten.

Salandra bat Mussolini, nach Rom zu kommen, um mit ihm über eine Koalitionsregierung zu beraten. Stattdessen tauchten Grandi und De Vecchi bei ihm auf. Die baten Mussolini zu Mittag des 29.10., nun nicht länger zu zögern, denn die Verhandlungen mit Salandra hatten sie nicht befriedigt. Aus Mailand kam die Antwort: ich will eine formelle Einladung des Königs zur Regierungsbildung. Salandra gab seinen untauglichen Versuch auf, und De Vecchi ließ sich vom König beauftragen, Mussolini telefonisch zu bitten, nun möge er doch endlich nach Rom kommen, man würde ihm dafür auch einen Sonderzug zur Verfügung stellen.

Aber Mussolini bestand auf einer offiziellen Einladung. Erst, als General Cittadini ihn im Namen des Königs angerufen hatte und der seine Bereitschaft per Telegramm bestätigt hatte, bestieg er einen Schlafwagen und kam am 30.10., morgens um 10.30 Uhr, in Rom an. Das war gerade noch rechtzeitig, bevor sich etwa 10 000 „camicie nere“, ohne von Perugia dazu den Befehl erhalten zu haben, in Richtung Rom in Marsch gesetzt hatten, und bevor diese ohne weiteres von den Ordnungskräften zerstreut worden waren.

Der „Marsch auf Rom“ fällt aus

Nun begab sich Mussolini in den Königspalast auf dem Quirinal und sprach zu seiner Majestät die wirkungsvollen Worte: „Ich bitte Eure Majestät um Vergebung, wenn ich mich noch im schwarzen Hemde vorstellen muss, da ich aus der Schlacht komme, zu der man schreiten musste, und die glücklicherweise unblutig war. Ich bringe Eurer Majestät das Italien von Vittorio Veneto, das geweiht worden ist durch den Sieg, und bin der getreue Diener Eurer Majestät“.

Seine Ministerliste hatte er schon fast fertig. Im mittlerweile 59. Kabinett des Königreichs reservierte er das Außen- und das Innenministerium für sich selber. Weiter drei Minister aus dem PNF, und da es eine Koalition sein musste, bekam der „Partito Popolare“ die Bereiche Justiz und Arbeit, zwei der „Partito Democratico Sociale Italiano“, zwei fielen an die Liberalen. Ferner Luigi Federzoni, der parteilose Philosoph hohen Grades Giovanni Gentile, für die Armee der Generalstabschef des Sieges, Armando Diaz, für die Marine der Flottenchef des Sieges, Paolo Thaon de Revel. Diese beiden gefielen dem König natürlich besonders.

Am 31.10. wurde das Kabinett vereidigt. Die verdienstvollen Haudegen wie Grandi, Balbo, Farinacci, gingen leer aus, denn nun galt es, weiter Seriosität zu verbreiten. Nur De Vecchi, da er dem König genehm war, durfte Staatssekretär für „Assistenza Militare“ werden.

Die durchnässten, frierenden, hungernden Marschkolonnen rund um Rom wurden nun nicht mehr gebraucht. Am 31.10. aber durften sie, in etwas unordentlicher Aufmachung, am Quirinals-Palast vorbeidefilieren. Der König und neben ihm Diaz und Thaon de Revel salutierten kaltblütig vom Balkon aus. Immerhin waren auch hochdekorierte Offiziere in der pittoresken Schar, so General Luigi Capello, einer der (allerdings sehr umstrittenen) Kommandeure in den Isonzo-Schlachten 1915-17.

Halten wir hier inne. Den „Marsch auf Rom“ im wörtlichen Sinne der revolutionären Eroberung der Macht hat es nicht gegeben. Daran konnte auch die phantasiereiche faschistische Propaganda nichts ändern. Der eigentliche „Marsch auf Rom“ bestand in der Raffinesse, wie Mussolini mit dem Chaos drohte, um das Einladungs-Telegramm des Königs zu ertrotzen. Das allerdings gar nicht raffinierte Vabanque-Spiel bestand darin, dass Mussolini nicht genau einschätzen konnte, ob der König es sich auch wirklich abtrotzen lassen würde. Es war „brinkmanship“, von Erfolg gekrönt.

Aber König und Kirche bleiben bestehen

Gleichzeitig wies es auf die Grenzen der Macht hin, die das faschistische Regime, auch nach seiner späteren Konsolidierung, nicht aufbrechen konnte. Mussolini wurde sich dessen zum letzten Mal bewusst, als nach dem Abfall der Partei-Granden von ihm (25. Juli 1943) der König es sich erlauben konnte, ihn schlicht verhaften zu lassen. Dass der König mit seiner Hilfsstellung für den Faschismus im Jahre 1922, und nach dem ständigen Gewährenlassen, bis in die Niederlage im Zweiten Weltkrieg hinein, sich selbst und die ganze Dynastie diskreditierte (2. Juni 1946: Referendum zugunsten der Republik!), ist freilich eine andere Sache.

„Squadristi“ auf dem „Marsch nach Rom“, die Machtübernahme der Faschisten erfolgte jedoch weit weniger martialisch – per Sonderzug, der Mussolini von Mailand nach Rom brachte (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Die zweite, nicht aufhebbare Grenze von Mussolinis Macht lag in der starken Position der katholischen Kirche. Hier gab ihm die Vernunft ein, dass ein Ausgleich notwendig sei, zumal Papst Pius XI. (1922-1939) sein Regime dem von gottlosen Sozialisten und freimaurerischen Liberalen vorzog. Kernstück des Ausgleichs musste die „römische Frage“ sein, des Ersatzes, den der Papst für seinen 1870 endgültig verlorenen Kirchenstaat bekommen sollte. Schon die Regierung Orlando (siehe oben) hatte 1919 darüber Gesprächsbereitschaft signalisiert. Bald nach seinem Regierungsantritt suchte Mussolini Kontakte zum Vatikan. Der Papst war bereit, dafür den „Partito Popolare“ zu opfern. Der war ihm ohnehin als zu wenig botmäßig bekannt. Das Ergebnis waren die Lateran-Verträge vom 11. Februar 1929, die dem Papst zwar einen mikroskopisch kleinen, aber doch auch ein Völkerrechtssubjekt darstellenden „Vatikanstaat“ einbrachten. Ab 1871 hatte ein „Garantiegesetz“ der Kirche die Ausübung ihrer geistlichen Tätigkeit in Italien durchaus effektiv gesichert. Nun wurde es durch ein Konkordat ersetzt, das ein bilateraler Staatsvertrag war, nicht nur eine einseitige Konzession der Regierung.

Jedoch war zwischen Staat und Kirche nun nicht eitel Frieden ausgebrochen, da das Regime einen gänzlich neuen „faschistischen Menschen“ heranziehen wollte, der unvereinbar war mit dem christlichen Menschenbild. Der faschistische Mensch hatte dem Slogan zu folgen: „Credere, obbedire, combattere“: blinder Glaube an den „Duce“, ebenso blinder Gehorsam, Kampfbereitschaft allezeit. Der Hauptpunkt der Diskrepanz zwischen Katholizismus und Faschismus war die unbedingte Staats-Vergottung der Faschisten, ein auf die Spitze getriebener Etatismus, der das ganze Leben der Bürger (eher: Untertanen) verschlingen wollte.

Aber die Amtskirche blieb stabil, und was man ihr als Kollaboration vorwerfen konnte, hatte jedenfalls nicht die verheerenden Folgen, die es für Viktor Emanuel III. und die Dynastie Savoyen hatte.

Zusammenfassung und Unfehlbarkeit des „Duce“

Die Bedeutung der weltanschaulichen Vorstellungen, auf die sich der Faschismus berief, haben wir zu Beginn dieses Beitrages angesprochen. Sie wurzeln in der Kultur- und Geistesgeschichte des lateinischen Abendlandes, wie es sich ab dem 19. Jahrhundert nun einmal entwickelt hatte, und gehen sehr weit über den Polit-Krimi des „Marsches auf Rom“ hinaus. Der war nur möglich, weil zusätzlich zu den politischen Defekten der damaligen Verantwortlichen ein diffuses Bedürfnis nach neuen Wegen bestand. Auch das Bedürfnis nach einer starken „law-and-order“-Regierung war in dem konstitutionellen Königreich mit seinem hoch entwickelten Parlamentarismus ein solcher neuer Weg. Damit konnte eine Minderheit dem Gemeinwesen ihren Willen aufzwingen. Der Erfolg des Faschismus war nicht denkbar ohne die „prä-faschistischen“ Vorstellungen, die seit etwa 1900 die Runde machten.

Er war konkret nicht möglich ohne die Persönlichkeit Mussolinis. Um das festzustellen, muss man diesen keinesfalls zum „größten Staatsmann des 20. Jahrhunderts“ hochjubeln, wie das der Nachkriegs-Politiker Gianfranco Fini tat (und später wieder zurücknahm). Mussolinis spezifische Talente sind in diesem Beitrag bereits hinreichend klar geworden, und es kommt im historischen Rückblick nicht darauf an, ob man sie im einzelnen schätzenswert findet oder nicht. Machiavelli hat gesagt, ein Staatsmann müsse sowohl Fuchs als auch Löwe sein können. Mussolini war durchaus beides.

Er meinte aber leider, dass ein „Löwe“ heutzutage ein erfolgreicher Feldherr sein müsste, denn der Krieg wurde bis zum Überdruss von den Partei-Ideologen als der Höhepunkt menschlicher Tüchtigkeit gepriesen. Also hielt sich der „Duce“ für einen großen Feldherrn, bis hin zur hybriden Vorstellung der eigenen Unfehlbarkeit. Die glaubte er erreicht zu haben, nachdem sich die Italiener in dem (reichlich schmutzigen) Krieg von 1935/36 an den Äthiopiern für die Niederlage von Adua (1896, siehe oben) gerächt hatten. Denn der Einfachheit halber schrieb er den Sieg seinem eigenen Genie zu.

Es gab in Florenz sage und schreibe ein Institut für die Mystik des Faschismus, die schlicht darin gipfelte, dass der „Duce“ unfehlbar war. Sein Persönlichkeitsverfall begann damit, dass er das glaubte. Dabei sollte sich ein selbsternannter „Messias“ immer dessen bewusst bleiben, dass er eigentlich gar keiner ist.

Dann schrieb er sich auch noch die übermenschliche Fähigkeit zu, den Gang der Schicksale der Welt zu erahnen, was eine Übersteigerung des taktischen Gespürs in der Politik war, wie er es zweifelsohne besaß. Sein Prophetentum war ihm ein hinreichender Ersatz für die katholische Religion, der er angehörte. Doch im krassesten Gegensatz zu seinem „Sehertum“ stand die Hilflosigkeit, die er an den Tag legte, als das italienische Engagement im Zweiten Weltkrieg einen Misserfolg nach dem anderen brachte.

Das Ende vom Lied: die Ruinen auf dem Monte Cassino sind wie das zerbombte Berlin das Fanal des Faschismus in Italien und Europa (Quelle: gemeinfrei, Wikimedia commons).

Vor dem Krieg hatte er sich noch in die Prophezeiung verstiegen, die ganze Welt würde faschistisch werden. Ohne realistische Einschätzung der Situationen hätte er sich nicht zum Ministerpräsidenten hinauf manövrieren können. Doch seit dem Sieg in Äthiopien verlor er die Einsicht in die finanzielle, ökonomische und militärische Begrenztheit der Leistungskraft Italiens.

Sein Erfolgsrezept als Volkstribun war gewesen, die Massen mit Worten und seinem persönlichen Charisma hinzureißen, denn darauf kam es an, da auch die Politik in das Zeitalter der Massen eingetreten war. Dieses Erfolgsrezept verabsolutierte er nun und stürzte sich damit in die Außenpolitik. Dabei fesselte er sich an die Aggressivität des „Dritten Reiches“, was hauptsächlich deshalb verkehrt war, da Italien gegenüber dem „Großdeutschen Reich“ nur der Junior-Partner sein konnte und sich von Hitler mitziehen lassen musste. Als Ende Mai 1940 klar wurde, dass er an der Seite Hitlers in den Krieg eingreifen wollte, sagte ihm Marschall Badoglio: „Das ist ein Selbstmord!“, auch Italo Balbo und andere kundige, hochrangige Militärs waren dieser Meinung. Doch das war schon in der Zeit, wo er sich für unfehlbar hielt.

Von Bernd D. RILL, Vorsitzender des Redaktionskollegiums

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