Probleme mit der Gewaltenteilung, jetzt auch in Spanien?

In unserem politischen System, bei den sogenannten liberalen Demokratien des Westens sind Menschenrechte und Gewaltenteilung ein essentieller Bestandteil, und jeder Angriff auf sie wird als ein Angriff auf die Demokratie selbst betrachtet. Oft ist es eines der ersten Anzeichen dafür, dass das demokratische System als solches in Frage gestellt wird.

Europa ist nicht immun dagegen. Wir kennen schon die Probleme, welche die EU mit den jetzigen Regierungen in Ungarn und Polen bezüglich Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz hat, sowie die besorgniserregende Rolle, die rechtsradikale Parteien in den europäischen Parlamenten zunehmend spielen. Hinzu kommt die Nachahmung, die bei uns auch Populisten wie Trump finden. Diese verachten nicht nur die Wahrheit, sondern auch die demokratischen Institutionen, sowie die unentbehrlichen, dem System innewohnenden Regeln und Verfahren.

Mängel etwa in Fragen der Gewaltenteilung, welche die EU-Kommission besonders bei den Regierungen Ungarns und Polens anprangert, sind auch in anderen Ländern Europas, in anderer Form, nicht Mangelware. Nur in Frankreich, Spanien, Italien, Dänemark, Norwegen und den Niederlanden erfolgt etwa die Auswahl der Richter entsprechend den Empfehlungen der EU und des Europarates weitgehend unabhängig von der Exekutive. Nur weitgehend, anscheinend.

Konflikt in Spanien

In Spanien ist der Consejo General del Poder Judicial (kurz: CGPJ) für die Auswahl der Richter zuständig. Der CGPJ ist ein sehr wichtiges, unabhängiges Verfassungsorgan, dessen Namen man als „Generalrat der Justiz“ übersetzen könnte.

Der CGPJ ist aus 20 Mitgliedern zusammengesetzt, die ihren eigenen Präsidenten wählen, der zugleich Präsident des Obersten Gerichts wird. Die Wahl dieser 20 Mitglieder erfolgt ähnlich wie bei der Wahl der Verfassungsrichter in Deutschland. Die eine Hälfte wird vom Repräsentantenhaus (Congreso de los Diputados) gewählt, und die andere Hälfte vom Senat, jeweils mit Dreifünftelmehrheit. Sie werden für ein einziges Mandat von 5 Jahren gewählt. Eine Wiederwahl ist ausgeschlossen.

Dem CGPJ wird die Betreuung, Leitung, und Verwaltung des Justizwesens, inklusive, wie schon erwähnt, der Auswahl der Richter anvertraut. Aber dadurch wird auch sehr wichtig, wie die Zusammensetzung dieses Organs ist

Ähnlich wie beim Obersten Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika ist es hier nicht unwichtig, ob die Mehrheit dieses „aus Juristen und Richtern mit nachgewiesener Kompetenz“ zusammengesetzten Organs eine progressive oder eine konservative Mehrheit hat. Die politische Färbung ändert sich logischerweise mit der Änderung der Mehrheiten in der Volksvertretung nach den entsprechenden Wahlen, denn ihre Mitglieder werden von beiden Kammern des Parlaments gewählt.

Und die erforderliche Dreifünftelmehrheit bedeutet, dass normalerweise und trotz eines eindeutigen Verfassungsmandats keine Erneuerung ohne Mitwirkung der Opposition stattfinden kann. So ist es auch vom Gesetzgeber gewollt, damit die Gewählten eine breite Unterstützung der Volksvertreter genießen.

Aber es ist nicht das erste Mal, dass der konservative Partido Popular (PP), nach verlorenen Parlamentswahlen, die Erneuerung des CGPJ verzögert oder, wie jetzt, völlig boykottiert. Und diese Partei boykottiert schon vier Jahre lang! Es ist anzunehmen, dass die Väter der Spanischen Verfassung von 1978 nicht mit einem solchen Verhalten einer regierungsfähigen Partei gerechnet haben.

Im Boykott der Erneuerung des CGPJ ist letztlich die Ursache einer fast tumultuarischen Sitzung im spanischen Parlament kurz vor Weihnachten zu suchen.

Abgeordnete der einen Seite bezeichneten die anderen als Sozialkommunisten, die Spanien in ein neues Venezuela verwandeln wollen, und diese nannten die anderen Faschisten und Antidemokraten. Beide warfen sich gegenseitig vor, mit dem Parlament bzw. mit den Richterroben einen Putsch durchführen zu wollen. Die Überspitzung ging so weit, dass viele Bürger wieder das Gespenst eines noch nicht ganz verdauten Bürgerkrieges haben aufkommen sehen. Was war eigentlich passiert?

Korruption

Um das Ganze zu verstehen, muss man in der Zeit zurückgehen.

Im Juni 2018 wurde der Sozialist Pedro Sanchez Regierungschef als Konsequenz eines konstruktiven Misstrauensvotums gegen den Konservativen Mariano Rajoy. Grund und Erfolg des Misstrauensvotums waren auf die nie endenden Korruptionsaffären und Korruptionsverfahren zurückzuführen, die nicht nur Mitglieder der Partei, sondern den PP selbst als Partei-Organisation betrafen. Für den PP war der Verlust der Macht auf diese Weise und aus diesen Gründen besonders schmerzlich. Die darauffolgende Parteispitze unter Pablo Casado schreckte nicht davor zurück, die neue Regierung als „illegitim“ zu bezeichnen.

Ein Jahr später gewannen die Sozialisten die Wahlen, und Pedro Sánchez wurde im November 2019 als Regierungschef bestätigt. Nichtsdestotrotz haben die Wortführer des PP und der rechtsradikalen Vox immer weiter von „illegitimer Regierung“ gesprochen. In den letzten Wochen hat der neue Chef des PP, Núñez Feijoo, den Ausdruck nuanciert und erklärt, dass „die Regierung zwar nicht illegitim sei, wohl aber ihre Handlungen“. Das alles ist nicht nur falsch und unverantwortlich, sondern schafft auch Verwirrung und Polarisierung der Meinungen innerhalb der Bevölkerung. In Fachkreisen wird der Illegitimitätsvorwurf als eines der ersten Warnzeichen des demokratischen Verfalls wahrgenommen (Levitzki, Steven, How Democracies Die: What History Reveals About Our Future). Die politische Atmosphäre wird dadurch vergiftet.

Zur Entlastung des PP muss man jedoch sagen, dass diese Partei, trotz ihres Ursprungs (sie wurde vom Franco-Minister Fraga Iribarne gegründet) eine einwandfreie demokratische Partei ist, die zwei von den sechs Regierungschefs der neuen spanischen Demokratie gestellt hat. Sie hat das Verdienst, bis zur Entstehung der rechtsradikalen Vox das ganze Rechtsspektrum zusammengehalten zu haben. Und im EU-Parlament gehört sie zur EVP (Christdemokraten). Viele Beobachter führen ihre neuartige Politik auf den unüblichen Verlust der Macht durch ein Misstrauensvotum, auf die laufenden Korruptionsverfahren und, vor allem, auf den Druck der rechtsextremen Konkurrenz von Vox zurück.

Der PP befürchtet besonders, dass die Korruptionsaffäre, die schon beim Misstrauensvotum Hauptursache ihres Machtverlustes war, jetzt auch bei der Ende dieses Jahres 2023 anstehenden Wahl zum Parlament erneut zu Buche schlagen wird. Denn viele und wichtige Korruptionsverfahren sind noch am Laufen, und in einige davon sind sogar prominente Mitglieder der Partei involviert, wie der ehemalige Ministerpräsident Rajoy, sein Innenminister Fernández Díaz und die ehemalige Generalsekretärin der Partei, Dolores de Cospedal oder, immer noch, der ehemalige Schatzmeister Bárcenas.

Es ist daher naheliegend zu denken, dass die Parteispitze die Erhaltung der alten Mehrheiten innerhalb des CGPJ und dadurch seine Nicht-Erneuerung als für die Partei zuträglich betrachtet. Und zwar so weit, dass sie dabei nicht davor zurückschreckt, ein klares Mandat der Verfassung zu ignorieren, während sie sich gerne als besonders verfassungstreu im Vergleich zu allen anderen Parteien präsentiert.

Zusammenprall der Institutionen

Aber der eigentliche Zusammenprall der Institutionen, die unmittelbar zu den erwähnten, fast tumultuarischen Ereignissen im Parlament führten, geschah im Zusammenhang mit der Erneuerung eines anderen wichtigen Verfassungsorgans: des Verfassungsgerichts.

Um den Vorgang besser zu verstehen, sei gesagt, dass das spanische Verfassungsgericht außerhalb der Justizhierarchie steht und ein eigenes Wahlsystem hat. Es besteht aus 12 Mitgliedern, die für ein einziges Mandat von neun Jahren gewählt werden. Acht werden von der Volksvertretung gewählt, zwei wählt die Regierung und zwei wählt der CGPJ. Alle drei Jahre wird ein Drittel der Richter nach Ablauf ihrer Amtszeit ersetzt. Jetzt ging es um das von der Regierung und dem CGPJ zu ersetzende Drittel.

Solange der CGPJ nicht in der verfassungsmäßigen Zeit erneuert wird, führt er seine Funktionen provisorisch weiter. Dasselbe gilt für das Verfassungsgericht. Und was geschah, war folgendes:

Am 13. September, einem Termin, an dem der CGPJ nach dem Gesetz seine zwei Kandidaten zur Erneuerung des Verfassungsgerichts hätte wählen sollen, hat die konservative Mehrheit im CGPJ mit Verzögerungstaktik so manövriert, dass diese Kandidaten nicht ernannt werden konnten. Dadurch wurde auch die verfassungsmäßige Erneuerung des Verfassungsgerichts selbst boykottiert. Denn die zwei schon gewählten Kandidaten der Regierung, die zum zu erneuernden Drittel gehören, konnten auch nicht ihr Amt antreten. Und so ging es weiter bis zur Woche vor Weihnachten.

Da war es anscheinend der Regierung zu viel. Deswegen versuchte sie, im Parlament ein neues Gesetz eilends durchzudrücken, das mindestens diese letzten Missstände in effektiverer Form beheben sollte. 

Dieses Vorhaben (das Vorhaben, nicht schon die verabschiedete Norm) hat aber prompt der PP vor demselben (auch schon seit Monaten provisorisch handelnden) Verfassungsgericht mit dem Argument angeklagt, dass durch das gewählte Verabschiedungsverfahren die Rechte der Abgeordneten verletzt würden. Die Konservativen ersuchten daher das Verfassungsgericht, die Gesetzgebung wegen Formmangel provisorisch und präventiv zu stoppen. Und das Gericht reagierte schnell genug, um die Abstimmung, wenn auch nicht im Repräsentantenhaus (Congreso), so doch mindestens in zweiter Lesung im Senat zu verhindern.

Außerhalb des Parteienspektrums der Rechten reagierte man empört, und in juristischen Fachkreisen wurde die Entscheidung scharf kritisiert. Dem provisorisch, wenn auch rechtmäßig handelnden Verfassungsgericht wird vorgeworfen, dass es nicht eine verabschiedete Norm, sondern selbst das Recht der Volksvertreter zur Abstimmung verboten hat; und dass die zwei Mitglieder des Gerichts, die persönlich betroffen waren (sie sollten eben durch die neuen Kandidaten ersetzt werden), obwohl angefochten, gegen die eigene Anfechtung gestimmt und dadurch auch über den Urteilsspruch entschieden haben. Beides ist ein Novum in der spanischen Rechtsgeschichte. Verständlich, dass die gegenseitigen Vorwürfe einen fast unerträglichen Ton erreichen und die Bevölkerung polarisiert haben.

Die Regierung hatte offensichtlich zu viel Eile. Der PP und Vox haben mehrere Gesetze vor das Verfassungsgericht gebracht (über die Abtreibung, die Euthanasie, über Arbeitsgesetzgebung u.a.), und die Regierung möchte, dass das Land so bald wie möglich ein erneuertes und voll funktionsfähiges Verfassungsgericht hat. Mit anderen Mehrheiten, natürlich. Was wird nun passieren?

Weiterentwicklung

Exekutive und Legislative haben schon durch ihre Sprecher angekündigt, dass sie trotz aller Bedenken die Entscheidung des Verfassungsgerichts akzeptieren. Und die Regierung hat schon eine neue Gesetzesvorlage angekündigt, die den Erfordernissen des Urteilsspruchs entsprechen soll. Das würde zwar länger dauern, aber dadurch würde es unwahrscheinlich sein, dass die Taktik der Konservativen mittelfristig Erfolg hat. Tatsächlich hat sich schnell gezeigt, dass schon die Ankündigung der neuen Norm ihre Wirkung gehabt hat. Inzwischen ist die Erneuerung des Verfassungsgerichts schon erfolgt. 

Etwas anderes ist es mit der Erneuerung des CGPJ. Der PP hat schon mehrmals Anläufe zur Erneuerung dieses Verfassungsorgans genommen und sich dann wieder zurückgezogen. In der Öffentlichkeit hat das die Parteispitze immer wieder mit wechselnden Ausreden zu rechtfertigen versucht. Hier die wichtigsten: Einmal, weil die Linkspartei Podemos in der Regierungskoalition ist; einmal, weil die Regierungspolitik gegenüber den katalanischen Separatisten untragbar sei; einmal, weil das Wahlverfahren eigentlich geändert werden müsste, um der Richterschaft einen direkten Zugang zur Wahl ihres eigenen Regierungsorgans zu ermöglichen.

Im Regierungslager wird geantwortet, dass man sich erst mal an das geltende Gesetz halten soll und man dann gegebenenfalls über die Veränderung des Wahlverfahrens sprechen kann.

Aber die herbeigeholten Ausreden des PP dienen vor allem dazu, Rauchwolken über die Wahl zu blasen und Verwirrung zu schaffen. Denn das Mandat der Verfassung liegt klar vor, und das konkrete, jetzt geltende Wahlverfahren wurde festgelegt, als der PP an der Regierung war. Und, nebenbei gesagt, eine wenn auch partielle, aber direkte Wahl  durch die Richterschaft (schon vor hundert Jahren von Max Weber als korporatistisch gebrandmarkt) findet kein Verständnis im linken Flügel des Parlaments. Da weist man auf den Umstand hin, dass die richterliche Gewalt, wie die beiden anderen Gewalten, vom Volk ausgehen muss und nicht Sache eines korporativen Gremiums sein darf, auch wenn dieses gehört werden sollte.

Tatsache ist, dass der PP, von Vox, aus anderen und verschiedenen Gründen, meistens unterstützt, populäre und populistische Ausreden sucht, um eine Erneuerung zu verhindern, die für ihre Parteiinteressen unzuträglich wäre.

Die wechselnden Ausreden des PP sind, meistens im Zusammenhang mit der linken Podemos oder mit den baskischen und katalanischen Nationalisten, alle sehr verhasst im rechten Lager. Besonders erfolgreich sind sie aber gegen die kompromissbereite Politik der Regierung gegenüber den katalanischen Separatisten. Nach Angaben der Regierung versucht diese Politik, eine neue Normalität in dieser wichtigen Region Spaniens im Rahmen der Verfassung und in Einklang mit der modernen europäischen Gesetzgebung herbeizuführen. Die Opposition interpretiert sie als ein Instrument der Regierung, ihre Mehrheiten im Parlament rücksichtslos mit allen möglichen Mitteln zu sichern.

Das eigentliche Problem ist nicht, dass, gelegentlich, eine Partei zu Verzögerungstaktiken und anderen Tricks greift, die den Rahmen der Verfassung zu sprengen drohen. Solche korrosiven Praktiken sehen wir fast überall. Die Amerikaner, mit mehr Erfahrung in diesen Kämpfen als die meisten europäischen Demokratien, haben schon einen Namen dafür: „hard ball“. Hard ball spielen ist, aus Definition, kein faires Spiel.

Unsere Demokratien können nachweislich vieles unversehrt verdauen, aber, wenn es sich um die Grundpfeiler des Systems handelt, ist Vorsicht geboten. Trump hat uns schon vorgezeigt, und nicht nur bei der Ernennung von Richtern, wie weit man auf diesem Wege gehen kann. Leider fehlt es nicht, auch in Europa nicht, an Trump-Nachahmern.

Von Kollegiumsmitglied Dr. Vicente Rodríguez Carro

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