Das Jahr 2022 bringt viele denk- und erinnerungswürdige Jahrestage für politisch Interessierte mit sich. Das EUROjournal pro management wird sich im Laufe der nächsten Monate mit der 100. Wiederkehr einiger dieser markanten Wegmarken der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen. So bildete das Jahr 1922 auf der einen Seite zwar etwa den Beginn der paneuropäischen Bewegung des Richard Coudenhove-Kalergi, während fast zeitgleich mit dem „Marsch auf Rom“ aber auch der Irrweg des Faschismus in Europa begann.

Auch die Sozialdemokratie in Bayern erinnert 2022 an einen relevanten Erinnerungstag in ihrer langen Geschichte.

Am 30. Juni vor 100 Jahren starb Georg von Vollmar, der legendäre „rote Ritter“ und Gründer der Bayerischen Sozialdemokraten. Im Jahre 1850 in eine königlich-bayrische Beamtenfamilie mit Adelsprädikat hineingeboren, durchlief er zunächst eine streng katholische Erziehung im Internat der Benediktiner von St. Stephan zu Augsburg. Nachdem der Besuch des Gymnasiums durch seine Lateinschwäche abgebrochen werden musste, verpflichtete sich der junge Edelmann, ebenfalls standesgemäß, bei der Bayerischen Armee, desertierte jedoch bald und trat gegen den Willen seines Vaters, der hoher Beamter im Bayerischen Innenministerium war, in die Leibwache Papst Pius IX. (1792-1878) ein. Noch minderjährig wurde von Vollmar 1868 nach München rücküberstellt. Eine Rückkehr in die bayerische Armee war aufgrund seiner Desertation zwei Jahre zuvor nicht mehr möglich, als Telegraphist war der junge Mann dennoch auch am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 beteiligt, wurde im Rahmen dieser Aufgabe verletzt.

Nach seiner Rückkehr nach München wurde von Vollmar Journalist, später trat er in die Dienste des „Dresdner Volksboten“ ein, einer frühen sozialdemokratischen Tageszeitung, und machte dort mit für seine Zeit aufrührerischen Schriften auf sich aufmerksam. Zunächst die Zensoren des Sächsischen Königs, was dem Redakteur 1877 wegen Majestätsbeleidigung zehn Monate Haft einbrachte, damit aber auch die Granden der Deutschen Sozialdemokratie. August Bebel (1840-1913) berief Georg von Vollmar 1878 zum Chefredakteur von „Der Sozialdemokrat“, der seinerzeit aufgrund der Illegalität der Bewegung im Kaiserreich im Schweizer Exil produziert werden musste. Bald war der „rote Ritter“ seinen eigenen Parteiführern jedoch zu radikal und musste dieses Amt aufgeben. Ab 1881 hatte Georg von Vollmar als Reichstagsabgeordneter die Möglichkeit, selbst aktiv Politik zu gestalten. Bis 1918 blieb er – mit einer kurzen Pause von drei Jahren – gewähltes Mitglied des Reichstags. In jener Zeit war es durchaus nicht unüblich, dass herausragende Parteifunktionäre parallel dazu auch in Landeskammern vertreten waren. So auch von Vollmar, zunächst bis 1889 in seiner damaligen Wahlheimat Sachsen, nach seiner Rückkehr bis 1918 im Bayerischen Landtag.

Aus dem ursprünglich weit links stehenden Sozialrevolutionär wurde mit zunehmenden Alter ein über seine Partei hinaus anerkannter Realpolitiker, der im Juli 1892, also vor nun bald 130 Jahren, in Reinhausen den bayerischen Landesverband der SPD mitbegründete. In das „größte Dorf der Oberpfalz“, das erst 1924 in die Stadt Regensburg eingegliedert wurde, musste man ausweichen, da sich in der Domstadt durch Intervention der nationalliberalen Stadtverwaltung unter ihrem berühmten (in mancherlei Hinsicht durchaus auch berüchtigten) Bürgermeister Oskar von Stobäus (1830-1914) kein Wirt getraut hatte, den „Revoluzzern“ einen Saal zur Verfügung zu stellen. Das kleine Reinhausen sollte 13 Jahre später übrigens noch einmal einen wichtigen Beitrag für die Geschichte des demokratischen Bayerns leisten – als Geburtsort des späteren CSU-Ministerpräsidenten Alfons Goppel (1905-1991).

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie 1918 hätte das Amt des Ministerpräsidenten im neuen Freistaat Bayern durchaus wohl dem „roten Ritter“ offen gestanden, doch aus gesundheitlichen Gründen legte Georg von Vollmar in diesem Jahr alle Ämter nieder. Die erforderliche Nachwahl zum Reichstag ließ den Stern eines weiteren berühmten bayerischen Sozialdemokraten steigen: Kurt Eisner (1867-1919) wurde nachnominiert und konnte so die Untersuchungshaft, die wegen des Verdachts des Landesverrats gegen ihn verhängt worden war, verlassen. Die Haltung des wenige Monate später kurzzeitig tatsächlich ersten bayerischen Ministerpräsidenten unterschied sich von der des bis zuletzt an Burgfrieden nach innen und Siegfrieden nach außen festhaltenden von Vollmar wohl nicht weniger stark wie die zwischen dem jungen und dem alten Vollmar. Es darf angenommen werden, dass der bis zu diesem Zeitpunkt Vorsitzende der bayerischen Sozialdemokratie (sein im Vergleich zum USPD-Mann Eisner deutlich gemäßigter Schützling Erhard Auer folgte im Amt des (M)SPD-Vorsitzenden nach) mit der den Wittelsbachern im Herbst 1918 abgetrotzten und als epochal anzusehenden Umwandlung von der konstitutionellen in eine parlamentarische Monarchie (etwa nach dem Vorbild des Vereinigten Königreichs) wohl mehr als zufrieden gewesen wäre.

Die Wirren der ersten Jahre des Freistaats Bayern, geprägt von der Weltkriegsniederlage und den anschließenden bürgerkriegsähnlichen Zuständen, denen u.a. auch Kurt Eisner zum Opfer fiel, beobachte Georg von Vollmar bis zu seinem Tod Ende Juni 1922 von seinem Anwesen am Walchensee aus, das er 1885 mit seiner aus Schweden stammenden Gattin Julia Kjellberg bezogen hatte. Nur wenige Kilometer weiter, am Kochelsee, ist der Doyen der bayerischen Sozialdemokratie noch heute ganz lebendig. Denn auf Schloss Aspenstein besteht seit 1948 die Georg-von-Vollmar-Akademie als Partei nahe politische Bildungsstätte, das kleinere, wenn auch ältere Pendant zur CSU nahen Hanns-Seidel-Stiftung. Wo bis zur Säkularisation die Fürstäbte des Klosters Benediktbeuern ihre Sommerfrische hielten, können heute politisch Interessierte Seminare und Kurse zu einer breiten Palette von kommunal- bis europapolitischen Themen, aber auch Kultur und Geschichte, besuchen. Diese auch bald schon wieder 75jährige Widmung des Gebäudes durch einen Nachfolger von Vollmars, den als „roter Baron“ bekannt gewordenen SPD-Landesvorsitzenden von 1947 bis 1963 Waldemar von Knoeringen (1906-1971), hebt sich damit erfreulich von der vorangehenden Nutzung ab, als von 1936 bis 1940 der Reichsjugend(ver)führer und spätere Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach, dort residierte.

Die Georg-von-Vollmar-Akademie unter Leitung der langjährigen Landtagsabgeordneten Carmen König-Rothemund und dessen von Dr. Dorle Baumann, ebenfalls ehemaliges Mitglied des Landtags, geführter Förderverein haben sich für die Jahre 2022/23, in denen zunächst des 100. Todesjahrs des Namensgebers gedacht, 2023 dann das 75. Jubiläum der Akademie gefeiert wird, ein interessantes Programm gegeben. Hervorzuheben ist dabei die Veranstaltungsreihe „Eldorado Bayern!? Debatten zu bayerischen Selbst- und Fremdbildern“, mit der man sich auf die so genannten „Eldorado“-Reden des Namensgebers bezieht. In einer gleichnamigen Münchner Gaststätte hatte Georg von Vollmar 1891 – nach Lehrmeinung der politischen Wissenschaft – den Wandel vom Sozialrevolutionär zum Sozialpolitiker vollzogen. Insbesondere eine modernisierte Schul- und Wissenschaftspolitik waren dem SPD-Politiker seither besonders wichtig gewesen, was ihn natürlich zusätzlich als höchst geeigneter Namensgeber dieser Einrichtung qualifizierte.

Vom Leiter der Chefredaktion Prof. Dr. Wolfgang Otto

Zum Foto: Das bekannteste und geradezu ikonische Bild von d e m Ahnherrn der bayerischen Sozialdemokraten, Georg Ritter von Vollmar, entstand um 1900 (Quelle: gemeinfrei).

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